Frucht der Sünde
ein weiteres Stockwerk gab.
Es war klar, dass sie in diesem Haus ein behagliches Leben geführt hatte. Oft waren die Räume hell und freundlich, und ebenso klar war, dass sie schon tausend Mal an der Treppe vorbeigekommen sein musste. Sie war ihr nicht aufgefallen, vielleicht hatte sie auch einfach keinen Grund gehabt hinaufzugehen.
In dem Traum jedoch
musste
sie hinaufgehen. Mal erwartungsvoll, mal bebend vor Angst. Denn irgendetwas dort oben hatte ihr seine Gegenwart gezeigt.
Sie war fast jedes Mal aufgewacht, bevor sie die oberste Treppenstufe erreicht hatte, entweder enttäuscht oder voller Erleichterung. Nur manchmal hatte sie, kurz bevor sie die Augen aufschlug, noch einen Blick auf einen düsteren, stickigen Flur mit einer Reihe grauer Türen erhascht.
In Wirklichkeit hatte sie – sah man von den Wohnungen in Mietshäusern ab – nie in einem Haus mit zwei Obergeschossen gewohnt.
Jetzt allerdings …
«Meine Güte», sagte Merrily. «Wir können unmöglich
da drin
wohnen!»
«Ja, es ist schon ziemlich groß», räumte Onkel Ted ein. «Daran habe ich gar nicht gedacht. Für Alf Hayden war das nie ein Problem. Sechs Kinder, zahllose Enkel …»
Groß war es allerdings, das konnte man ohne Übertreibung sagen. Siebzehntes Jahrhundert, Fachwerk, schwarze Balken, weißes Gefach. Sieben Schlafzimmer. Ein absoluter Riesenkasten, wenn man nur zu zweit war. Ziemlich malerisch, aber erwartungsgemäß auch reichlich heruntergekommen. Die letzte Renovierung hatte vermutlich in den fünfziger Jahren stattgefunden.
«Natürlich bemüht sich die Kirche, diese zugigen alten Pfarrhäuser loszuwerden», sagte Onkel Ted, «sie durch hübsche,moderne Schachteln zu ersetzen. Sind ziemlich viel wert, diese historischen Schwarzweiß-Dinger. Na ja … dieses hier nun gerade nicht, jedenfalls nicht in dem Zustand, in dem es nach mehr als dreißig Jahren Alf und Betty ist.»
Man kann es pittoresk nennen, dachte Merrily, oder auch hoffnungslos überaltert. Da war zum Beispiel der stahlgraue Elektroofen mit den vier Heizstäben, der die Kaminecke blockierte. Oder die Küche von den Ausmaßen eines mittleren Schlachthofs, in der es keinen einzigen Schrank, dafür aber meterweise offene Regale und über dem Putz verlegte Leitungen gab, die sich unter der Spüle ringelten wie Kobrababys in ihrem Nest. «Abgesehen davon», sagte Ted, «stehen uns zurzeit keine hübschen, modernen Schachteln zur Verfügung. In den letzten drei Jahren wurden auch genau drei Bauanträge für neue Wohnsiedlungen abgelehnt. Mit dem Denkmalschutz sieht es natürlich anders aus.» Er runzelte die Stirn. «Denkmalschutz ist eine gute Sache, aber nicht, wenn er ein nettes, altes Dorf zum Exklusivterritorium der Reichen macht.»
In seiner Strickjacke und den bequemen Slippern erinnerte Ted Clowes, der sich vor zwei Jahren ins Privatleben zurückgezogen hatte, in nichts mehr an den Rechtsanwalt, der er früher gewesen war. Seine Haut war inzwischen zerfurcht wie die eines Bauern, und er hatte zugenommen. Er wirkte genauso wettergegerbt und zuverlässig wie die Eichenbalken in den Mauern des Pfarrhauses.
Als verdientes Mitglied des Gemeinderats hatte Ted es sich zur Aufgabe gemacht, das Pfarrhaus zumindest notdürftig instand setzen zu lassen. Er hatte mit Bauunternehmern, Installateuren und Anstreichern verhandelt. Doch obwohl nun schon fast Mitte April war, hatten die Arbeiten noch kaum begonnen. Es sah ganz so aus, als müsse Merrily den ersten Monat ihres Pfarramtes in einer Pension verbringen.
Irgendwie war sie erleichtert darüber. Ein Haus von dieser Größe – es war einfach lächerlich. Noch dazu mit einem unbewohnten zweiten Obergeschoss voll Staub und hallender Echos.
Sie stand auf dem Treppenabsatz im ersten Stock und sah mit kläglicher Miene nach oben. «All diese Treppen.»
«Ja», sagte Jane nachdenklich, «das verändert natürlich die ganze Situation.»
«Tut es das?»
Merrily beobachtete mit einem unbehaglichen Gefühl, wie ihre Tochter die Treppe ins oberste Stockwerk hinaufstieg. Drei Tage lang hatte Jane mehr oder weniger auffällig geschmollt. Merrilys zwei Studienjahre in Birmingham hatten Jane gut gefallen, und in Liverpool, wo Merrily Hilfsgeistliche war, hatte sie sich noch wohler gefühlt. Sie war jetzt eine richtige Großstädterin. Auf dem Weg ins Dorf hatte sie gesagt, Cheltenham sei wenigstens noch ein Rentnerparadies gewesen, aber im ländlichen Herefordshire könne man sich genauso gut gleich
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