Frucht der Sünde
aufnehmen können, wenn er das Zimmer je zu Gesicht bekäme.
Als Jane zum Essen herunterkam, verkündete sie: «Ich gehe morgen wahrscheinlich in die Kirche.»
«Wie bitte?» Merrily drehte sich um. «Was hast du gerade gesagt?»
«Du hast es doch gehört, oder?»
«Gut, Schatz», sagte Merrily ganz ruhig. «Leg dich schon mal hin, ich rufe den Arzt.»
«Sehr lustig.»
Merrily hatte darauf geachtet, nie Druck auf ihre Tochter auszuüben, wenn es um den Gottesdienstbesuch ging. Zugegeben, es wäre ein schöner Zug von der Pfarrerstochter, sich bei der offiziellen Amtseinführung ihrer Mutter am Freitag der kommenden Woche blicken zu lassen, zu der auch der Bischof erscheinen würde. Eigentlich sollte sich Merrily über den plötzlichen Sinneswandel ihrer Tochter freuen, doch sie hatte das Gefühl, dass etwas damit nicht stimmte.
Sie holte tief Luft. «Jane?»
«Ja?»
«Was ist an dem Tag passiert, an dem du nicht in der Schule warst?»
Jane sah sie an, sah fast durch sie hindurch. Ihre tiefblauen Augen waren vollkommen ausdruckslos. Merrily kannte diesen Blick von Jugendlichen aus Liverpool, die irgendwelche Drogen genommen hatten.
Merrily beherrschte sich. «Erzähl mir, was los war, Jane.»
«Sie hat es dir doch schon gesagt. Lucy hat es dir gesagt.» Jane war wütend.
«Ich will es aber von dir hören.»
«Du glaubst mir doch sowieso nicht.»
«Du hast mir noch nichts erzählt, was ich nicht glauben könnte.»
Ein Schatten schien zwischen ihnen hindurchzugleiten. «Das interessiert dich doch in Wirklichkeit gar nicht. Du weißt ja sowieso immer alles besser.»
«Was ist denn, Schatz?» Merrily ging auf Jane zu.
«Du …», Jane wich zurück. «Du stehst da auf deiner Kanzel, Madame Oberheilig, und faselst über die jungfräuliche Geburt und den verdammten Heiligen Geist, immer der gleiche Mist und immer wieder dasselbe …»
«Jane, was meinst du denn damit?»
«Wozu soll das gut sein, was du da machst, erklär mir das mal. Ich habe übrigens keinen Hunger. Ich gehe ins Bett.»
«Ich habe nichts von dem verstanden, was du gesagt hast, ist dir das klar? Wie bist du überhaupt darauf gekommen? Können wir darüber mal reden?»
Jane stürmte hinaus und schnappte sich unterwegs ihren Traherne.
Wie viel Uhr war es? Drei Uhr morgens?
Der Wecker tickte sehr laut in dem großen Schlafzimmer, in dem kaum Möbel standen. Er war auf halb sechs gestellt, denn um acht Uhr hatte sie Gottesdienst. Letzte Woche waren ein halbes Dutzend Leute erschienen, unter ihnen Ted – aus Familiensolidarität.
Sie dämmerte wieder ein. Der Wecker tickte, eine Brise fuhr durch die Bäume. Und von oben waren Schritte zu hören. Ganz leise. Schleifende nackte Füße.
Merrily wurde schlagartig wach.
Der Mond erfüllte das Zimmer mit grauem Licht. Als Merrily den Arm hob, war auch er grau. Ihre Haut wirkte durchscheinend und ihr Körper fast schwerelos, sodass sie kaum mitbekam, dass sie plötzlich an der Tür stand.
Ich träume
, sagte sie sich.
Das ist ein Traum.
Doch sie wachte nicht auf.
Im Flur waren Türen, die düstere Zimmer verschlossen, die niemals mehr bewohnt werden würden. In diesen Zimmern waren sogar die Erinnerungen schal geworden. Sie war allein im ersten Stock des Pfarrhauses von Ledwardine, während Jane über ihr herumlief und mit wütender Energie die Wände bemalte. Gehörte das zu ihrem Geheimnis? Bestand das Geheimnis nur darin, dass sie Geheimnisse brauchte, ein Privatleben?
Merrily zitterte. Bald würde es Sommer werden, und das nächtliche Haus war immer noch novemberkalt.
Das
nächtliche Haus
. Ein anderer Ort. Ein kälterer Ort.
Die Geräusche von oben waren verstummt. Wenn Jane nachts die Wände anmalen wollte, warum nicht? Es war Wochenende. Merrily dagegen brauchte ihren Schlaf, wenn sie vor dem Gottesdienst noch frühstücken und duschen wollte.
Unvermittelt fand sie sich an der Treppe wieder, eine Hand auf dem Geländer, den Fuß auf der ersten Stufe. Von oben schien kurz ein Licht aufzuschimmern.
Merrily wandte sich ab. Das war Janes Stockwerk. Janes Wohnung. Dort hatte sie nichts zu suchen. Noch während sie sich umdrehte, überfiel sie schmerzliche Angst vor einem drohenden Verlust.
Sie würde ins Bett zurückgehen und versuchen, noch zwei Stunden zu schlafen. Als sie durch den Flur ging, wurde ihr klar, dass sie nicht mehr wusste, welche der Türen zu ihrem Schlafzimmer führte.
Sie zitterte und schlang die Arme um den Körper. Türen. Das Mondlicht verwandelte die
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