Frucht der Sünde
du? Das ist ihr Wesen. So zart wie die Luft. Ein Luftgeist. Die Erdgeister und Kobolde und so weiter sind dichter. Die Baumelfen sind braun und grün. Sie sind die Schutzgeister der Natur und treiben das Wachstum an. Es ist unmöglich, das Phänomen des Lebens ohne sie zu erklären.»
«Dafür hätte Mom vermutlich kein Verständnis.»
Lucy dachte einen Moment lang mit gespitzten Lippen nach. Dann sagte sie: «Man kann versuchen, das große Rätsel des Lebensnur mit den Begriffen von Physik und Chemie zu erklären – als riesige elektrisch aufgeladene Atom- und Teilchensuppe. Oder mit religiösen Begriffen. Das sind alles nur Begriffe, Jane, nichts weiter. Traherne spricht nie von Elfen oder Devas, aber Engel kommen ständig bei ihm vor. Cherubim und Seraphim und Cupidos, die durch die Luft fliegen, um den Menschen die Liebe zu bringen. Trahernes Texte sind voller versteckter Bezüge – wir wissen von seinem Interesse an der okkulten Philosophie des Hermes Trismegistus, wir wissen aus den Schriften John Aubreys, dass Traherne übersinnliche Wahrnehmungsfähigkeiten besaß. Aber damals musste man, wie du weißt, extrem vorsichtig sein.»
«Oder man endete wie Wil Williams?»
«Genau, Jane. Williams war Trahernes Protegé und sein Nachbar. Ich glaube, dass Williams ein bisschen zu unvorsichtig war, als er mit den Engeln tanzen wollte.»
Jane sagte: «Mom redet nie von Engeln. Sind nicht besonders cool in der modernen Kirche. Ich meine …»
«Die Kräfte der Engel entsprechen der Präsenz von Devas. Die Devas sind, wenn du so willst, die treibende Kraft in diesem System. Ein Deva kann eine ganze Region kontrollieren, einen ganzen Bezirk oder ein Ökosystem.»
«Wie zum Beispiel einen Apfelgarten?», fragte Jane, ohne nachzudenken.
Lucy schnurrte fast vor Freude. «Du fängst an zu verstehen. Du wirst unterstützt, das weißt du. Die Verbindung wurde geschlossen – du weißt, wann das war.»
«Ich dachte, es lag nur am Cider.»
«Oh, der Cider hat auch damit zu tun. Der Cider ist das Blut des Apfelgartens. Und jetzt ist er in deinem Blut. Ich habe vom ersten Moment an gespürt, dass eine oder beide von euch diese Erfahrung machen werden.»
«Von uns?»
«Du und Merrily.»
«Davon will sie bestimmt nichts hören», sagte Jane.
Jane kam um kurz vor sechs wieder nach Hause. Sie erzählte, der Verkauf sei nicht besonders gelaufen, aber ein nettes Paar aus Birmingham hätte vier handbemalte Apfeltassen mit Untertassen für vierundsechzig Pfund mitgenommen.
«Gott sei gedankt für die Leute mit schlechtem Geschmack», sagte Jane.
Merrily sah, dass sie ein Taschenbuch mit ausgewählten Texten von Traherne in der Hand hatte.
«Hast du das von deinem Verdienst gekauft?»
«Lucy hat es mir gegeben. Außerdem wollte ich nicht bezahlt werden. Es macht Spaß, ein bisschen Verkäuferin zu spielen.»
«Und liest du es auch?»
«Klar. Traherne ist cool.»
«Oh. Stimmt. Hätte ich wissen müssen. Und wieso?»
«Weil er wahrgenommen hat, von wie viel Schönheit wir umgeben sind, die wir aber nicht zu schätzen wissen und oft genug zerstören. Und das war ziemlich prophetisch, damals, Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, als es weder Großindustrie noch Insektizide oder sonst was gegeben hat.»
«Kann man wohl sagen.»
«Und er hat gesagt, wir sollen die Welt genießen. Uns begeistern. Von der Natur high werden. Gott will, dass wir glücklich sind.»
«Indem wir Party machen und so?», fragte Merrily provozierend.
«Weißt du», sagte Jane, «manchmal machst du mich echt krank. Wie kann man bloß so überheblich sein!»
Merrily erwiderte nichts. Jane hatte vermutlich mal wieder eine ihrer Launen.
Andererseits – in der letzten Zeit war sie eigentlich nie schlecht gelaunt oder unfreundlich gewesen. Nur distanzierter, beherrschter. Als ginge etwas in ihr vor. Hatte sie vielleicht einen Freund?
Könnte sein. Aber warum sollte sie das verschweigen? Jane hatte ihr früher immer gesagt, was los war. Nein, es musste etwas mit Miss Devenish zu tun haben. Zwei Mal war Jane verschwunden, und zwei Mal war sie mit Lucy Devenish wiederaufgetaucht. Die eigentlich richtig nett war.
Merrily zündete sich eine Zigarette an.
Jane ging hinauf in ihre Wohnung, um an ihren Mondrian-Wänden zu arbeiten. Vermutlich würden die unregelmäßigen Felder zwischen den Eichenbalken demnächst in sämtlichen Primärfarben erstrahlen. Und die Gesichtsfarbe des Beamten vom Denkmalsamt würde es bestimmt mit diesem leuchtenden Rot
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