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Fruchtbarkeit - 1

Fruchtbarkeit - 1

Titel: Fruchtbarkeit - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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könnte, als ob er Mitschuldiger an einem Verbrechen wäre. Die Zuführerin mochte ihm noch so sehr versichern, daß die Dame ihn nichts fragen würde, daß das strengste Geheimnis bewahrt werde; er zog es vor, im Vorzimmer zu warten; dieses führte in einige getrennte Abteilungen, in welchen man die Leute, welche Kinder brachten, einzeln warten ließ, bis die Reihe an sie kam. Und er sah die Frau mit dem Kinde verschwinden, welches immer noch sehr still war, mit groß offenen Augen nach oben starrend.
    Das Warten, obschon es schwerlich länger als zwanzig Minuten dauerte, schien ihm entsetzlich lang. Totenstille herrschte in dem düsteren, ernsten, eichengetäfelten Vorzimmer, in welchem es nach dem Spital roch. Er hörte nur das gedämpfte Wimmern eines Neugeborenen, manchmal übertönt von heftigem Schluchzen, vielleicht von einer Mutter, die in einer der anstoßenden Abteilungen wartete. Und seine Gedanken schweiften zu der Einrichtung früherer Zeiten zurück, zu der runden Lade, die sich in der Mauer drehte: die Mutter kam versteckt heran, legte das Kind hinein, zog an der Glocke und eilte fort. Er war zu jung, um diese Einrichtung noch in Gebrauch gesehen zu haben, er kannte sie nur aus einem Melodram im Theater an der Porte SaintMartin. Aber was für Erinnerungen an alte Geschichten wurden dadurch lebendig, an arme kleine Wesen aus der Provinz, die in Körben durch einen Fuhrmann gebracht und abgegeben wurden, an Kinder von Herzoginnen, die von geheimen Sendlingen in die Vergessenheit versenkt wurden, an die langen Reihen bedauernswerter Mädchen aus dem Volke, die sich unter dem Schutze der Nacht der Frucht ihres Fehltritts entledigten. Wie viel schien nun geändert, die Drehlade bestand nicht mehr, die Abgabe mußte offen geschehen, ein kahler und ernster Eingang führte in diese Stätte der Zuflucht, und in amtlicher Form wurden die Daten und Namen aufgenommen, wobei jedoch unverletzliches Geheimnis zugesichert war. Er wußte wohl, daß manche behaupteten, die Abschaffung der Drehlade habe die Zahl der Kindsmorde und Fehlgeburten verdoppelt. Aber das öffentliche Gewissen verdammt täglich mehr die Stellung der früheren Gesellschaft zu der vollendeten Tatsache, das Prinzip, daß man das Übel als unvermeidlich ansehen, es eingraben, es in geheime Kanäle leiten müsse wie die Abwässer, während die wahre Aufgabe einer freien Gemeinschaft im Gegenteil darin besteht, dem Übel entgegenzutreten, ihm zuvorzukommen, es im Keim zu zerstören. Das einzige Mittel, die Zahl der ausgesetzten Kinder herabzumindern, ist, die Mütter zu kennen, sie zu ermutigen, ihnen zu Hilfe zu kommen, ihnen die Möglichkeit zu geben, Mütter zu sein. Aber in diesem Augenblicke gab er sich keinen vernunftmäßigen Betrachtungen hin, bloß sein Herz war ergriffen von sich steigerndem Schmerz und Mitleid bei dem Gedanken an die Summe von Verbrechen, Schande und entsetzlichen Leiden, die durch dieses Vorzimmer geschritten waren, in dem er sich befand. Diese Frau, die in ihrem geheimnisvollen Bureau die Kinder in Empfang nahm, welch schreckliche Geständnisse mußte sie hören, wieviel Qual, wieviel Schmach und Elend an sich vorbeiziehen sehen! Ein Sturmwind fegte ihr die Verirrten der Straße und die Gefallenen der Paläste zu, alle Schändlichkeiten, alle Entsetzlichkeiten, von denen niemand etwas weiß. Dies war also der Hafen der Schiffbrüchigen, der düstere Schlund, in den man die verwünschte Frucht unseliger Frauen warf. Während seines langen Wartens sah er deren drei hereinkommen. Die eine war offenbar eine arme Arbeiterin, aber hübsch und zart; ihr wirrer Blick erinnerte ihn an eine Notiz, die er in den »Vermischten Nachrichten« der Zeitungen gelesen hatte, von einem Mädchen wie diese, welche, nachdem sie sich ihres Kindes entledigt hatte, ins Wasser gesprungen war; die zweite schien ihm eine verheiratete Frau, die Frau eines Arbeiters, die bereits zuviel Kinder hatte und eines mehr wohl nicht mehr ernähren konnte; die dritte endlich glich einer Dirne, sie war groß, stark, mit frechem Blick, eine von denen, die in sechs Jahren drei oder vier Kinder der Reihe nach hier abliefern, so wie man am Morgen einen Kübel mit Schmutzwasser in die Gosse schüttet. Sie verschwanden eine nach der andern, er hörte, wie man sie in den einzelnen Abteilungen unterbrachte, während er, das Herz voll Tränen, den schweren Druck des Schicksals auf die Menschen fühlend, immer noch wartete.
    Als die Couteau endlich mit leeren Händen

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