Fruchtbarkeit - 1
sie, richtete sich auf und gab einen verzweifelten Kuß ins Leere, der das kleine Häubchen traf. Sie hatte kaum ihre von Tränen verschleierten Augen geöffnet, sie konnte kaum mehr als den schattenhaften Umriß dieses armen, kleinen Wesens gesehen haben, das schrie und sich wehrte im Augenblicke, da man es ins Ungewisse hinausstieß.
»Sie töten mich, nehmen Sie ihn weg, nehmen Sie ihn weg!«
Im Wagen wurde das Kind plötzlich still, sei es, daß das Wiegen des Sitzes es einschläferte, sei es, daß das Rollen der Räder es beschäftigte. Die Couteau, die es auf den Arm genommen hatte, blieb zuerst schweigsam und schien nur an den Trottoirs interessiert, die von der hellen Sonne beschienen waren, während Mathieu, der an seinem Knie die Berührung des armen kleinen Wesens spürte, in schmerzliches Sinnen verloren dasaß. Plötzlich fing sie zu reden an und setzte laut ihre Gedanken fort.
»Das Fräulein hat sehr unrecht gehabt, mir ihn nicht anzuvertrauen, ich hätte ihn so gut untergebracht, und er wäre in Rougemont gediehen, daß es eine Pracht gewesen wäre. Aber sie glauben alle, daß wir ihnen nur um des, Geschäftes willen zureden. Denken Sie einmal! Wenn sie mir fünf Franken für mich gegeben und mir die Heimfahrt bezahlt hätte, würde sie das zu Grunde gerichtet haben? Ein hübsches Mädchen wie die findet immer Geld. – Ich weiß wohl, daß es in unserm Geschäft solche giebt, die nicht sehr anständig sind, die schachern, sich Provisionen zahlen lassen und dann die Kinder so billig als möglich unterbringen, indem sie sowohl die Eltern als die Pflegefrau betrügen. Das ist gar nicht schön, wenn man aus diesen lieben kleinen Geschöpfen eine Ware macht, mit der man handelt wie mit Hühnern oder Gemüsen. Wenn man das so geschäftsmäßig betreibt, so ist es begreiflich, daß sich einem das Herz verhärtet, daß man mit den Kleinen herumstößt, sie von Hand zu Hand wirft, als ob es Pakete wären. Aber ich, mein Herr, ich bin eine ehrliche Frau, ich habe die Bewilligung unsers Bürgermeisters, ich habe ein Sittenzeugnis, welches ich aller Welt zeigen kann. Und wenn Sie jemals nach Rougemont kommen, fragen Sie doch nach Sophie Couteau; man wird Ihnen sagen, daß das eine arbeitsame Frau ist, die niemand einen Sou schuldet.«
Mathieu konnte sich nicht enthalten, den Blick auf sie zu richten, um zu sehen, mit welcher Stirn sie so ihr eignes Lob sang. Dieses Plaidoyer, das gleichsam eine Antwort auf alles bildete, was Victoire erzählt hatte, berührte ihn eigentümlich; es war, als ob die Frau mit ihrem schlauen Bauerninstinkt geahnt hätte, welche Anklagen gegen sie erhoben worden waren. Als sie den durchdringenden, forschenden Blick Mathieus auf sich gerichtet sah, fürchtete sie wohl, nicht herzhaft genug gelogen, sich durch irgend eine Nachlässigkeit verraten zu haben, denn sie verfolgte den Gegenstand nicht weiter, sondern begnügte sich damit, in noch sanfteren Tönen dieses Paradies von Rougemont zu preisen, wo man die Kinder aufnahm, nährte, pflegte, hätschelte wie die Prinzen. Dann, als sie sah, daß dieser Herr den Mund nicht öffnete, verstummte sie wieder. Es war vergeblich, ihn herumkriegen zu wollen, den da. Und der Wagen rollte, rollte immerzu; Straßen folgten auf Straßen, alle menschenerfüllt und lärmend; sie hatten die Seine gekreuzt und hatten den Luxembourggarten erreicht. Erst nachdem sie diesen hinter sich gelassen, sprach die Couteau wieder.
»Um so besser, wenn die Dame sich einbildet, daß ihr Kind dadurch etwas gewinnen wird, wenn sie es dem FindelHaus übergibt. Wissen Sie, ich will nichts gegen die Verwaltung sagen, aber es gäbe da manches zu erzählen. Wir haben in Rougemont eine ganze Anzahl Kinder, die sie uns schickt, und diese, versichere ich Ihnen, gedeihen auch nicht besser, sterben ebensogut als die andern. – Nun ja, man muß den Leuten ihren Willen lassen. Aber ich möchte, daß Sie einmal so wie ich sehen könnten, was alles da drinnen vorgeht.«
Der Wagen hielt am oberen Ende der Rue DenfertRochereau, ehe er die alten äußeren Boulevards erreicht hatte. Eine hohe graue Mauer erhob sich vor ihnen, die nüchterne Fassade eines Amtsgebäudes; am Ende derselben befand sich eine kleine, einfache, kahle Tür, durch welche die Couteau mit dem Kinde eintrat. Mathieu folgte ihr. Aber er wollte nicht in das Aufnahmebureau mit eintreten, wo eine Dame die Kinder in Empfang nahm. Er war zu bewegt, und er beachtete obendrein, daß man Fragen an ihn stellen
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