Fruchtbarkeit - 1
heute hatten sie wohl manchen Schmerz erfahren, manche Träne vergossen; aber sie hatten sich fest zusammengeschlossen, sich miteinander getröstet; noch keiner hatte am Abend bei der allgemeinen Umarmung gefehlt, die alles wieder gutmachte. Und nun war ihnen die Beste entrissen, der Tod rief ihnen zu, daß es kein vollkommenes menschliches Glück gibt, daß die Tapfersten, die Erfolgreichsten in ihrer schönsten Hoffnung getroffen werden. Es ist kein Leben ohne Tod. Mit einem Schlage zahlten sie ihre Schuld an das menschliche Elend, und um so teurer, als sie sich einen größeren Lebensausschnitt erobert hatten, als sie reich schafften, um reich zu leben. Wenn alles um einen keimt und sproßt, wenn man die Fruchtbarkeit ohne Einschränkung erstrebt, die ununterbrochene Fortpflanzung – welch furchtbare Mahnung an den ewigen dunkeln Schlund, in welchem die Welt sich erneuert, wenn das Unglück eines Tages niedersaust, die erste Bresche reißt, ein teures Wesen wegrafft! Mit einem Male klafft ein Abgrund auf, die Hoffnung, die unendlich schien, ist vernichtet, und man steht betäubt vor der Erkenntnis, daß man nicht ewig leben und sich lieben kann. Ach, die zwei schrecklichen Tage, die nun folgten! Der Hof war erstorben, kein Laut war hörbar als das Atmen und Stampfen der Tiere, die ganze Familie war herbeigeeilt, vereinigte ihre heiße Tränen, verzehrte sich in entsetzlichem Harren, während die entseelte Hülle noch dalag, von einer Fülle von Blumen bedeckt. Und welche grausame Verschärfung des Schmerzes, als am Tage vor dem Begräbnis der Leichnam in den Saal herabgeschafft wurde, in dem sie alle noch vor wenigen Stunden zum fröhlichen Mahle vereint gewesen und so lustig beraten hatten, in welch prächtiger Weise sie ihn für den großen Tag der Doppelhochzeit schmücken würden. Hier fand nun die letzte düstre Wacht bei der Toten statt, und keine Strauchgewächse keine Blättergirlanden schmückten den Raum, nur vier Wachskerzen brannten, und am Morgen gepflückte weiße Rosen hauchten welkend ihren Duft aus. Weder der Vater noch die Mutter wollten sich während dieser letzten Nacht niederlegen. Sie blieben Seite an Seite neben dem Kinde, das die Erde ihnen nun wieder nahm. Sie sahen sie wieder ganz klein, sechzehn Monate alt, um die Zeit ihres ersten Aufenthaltes in Chantebled, in dem ehemaligen Jagdpavillon, als sie eben entwöhnt worden war, und sie sie in der Nacht wieder zugedeckt hatten. Sie sahen sie später in Paris, wie sie des Morgens herbeigelaufen war und mit triumphierendem Lachen ihr Bett erklettert hatte. Sie sahen sie wachsen, schöner werden, in dem Maße als Chantebled selber wuchs, als ob alle die Gesundheit, alle die Schönheit dieser wieder befruchteten Erde in ihr aufgeblüht wäre. Und nun war sie nicht mehr. Als dieser Gedanke, daß sie sie nie wieder sehen würden, sie überwältigte, suchten sich ihre Hände, vereinigten sich in einem schmerzerfüllten Drucke, während es ihnen schien, als ob aus derselben Wunde, aus ihren beiden durchbohrten Herzen ihr ganzes Leben, alle ihre kommenden Tage ausrännen. Die Bresche war nun geöffnet; würde nicht all ihr sonstiges Glück gleich diesem entfliehen? Und wenn auch die zehn andern Kinder da waren, von dem jüngsten, fünfjährigen, bis zu den zwei ältesten von vierundzwanzig Jahren, in Trauer gekleidet, weinend um ihre entschlafene Schwester geschart, gleich einem Trauerbataillon, das ihr die letzten Ehren erwies: weder Vater noch Mutter sahen sie mehr, zählten sie mehr, das Herz zerrissen von dem Verluste dieser einen, die ein Stück von ihnen mit sich hinwegnahm. Und in den großen kahlen Raum, den die vier Wachskerzen schwach erhellten, schien endlich die bleiche Morgendämmerung auf diese Totenwacht, diesen letzten Abschied der ganzen Familie.
Dann folgte noch ein grausamer Schmerz, als der Leichenzug über die weiße Straße zwischen den hohen Pappeln hinschritt, dieselbe Straße, über welche Rose so übermütig im Gewitter nach Hause gefahren war. Alle Verwandten, alle Freunde waren gekommen, die ganze Umgebung wollte ihre Teilnahme an dem niederschmetternden Unglück der Familie bekunden. Der Zug entfaltete sich diesmal wirklich zu außerordentlicher Länge hinter dem mit einem weißen Tuche bedeckten, mit weißen Rosen überstreuten Sarge. Die ganze Familie folgte ihm, auch die Mutter sowie die Schwestern hatten erklärt, daß sie die teure Tote nur am Rande des Grabes verlassen wollten. Dann kamen die näheren Freunde: die
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