Fruchtbarkeit - 1
daß, wenn sie sich beeile, in die Fabrik zu gelangen, ehe die drei Männer eintrafen, sie Morange in seinem Bureau aufsuchen, ihn zum Sprechen bringen, von ihm viel erfahren könnte. Zweifellos hatte er, der erste Buchhalter, Kenntnis von dem Gesellschaftsvertrage, auch wenn der Vertrag nur erst im Entwurfe bestand. Und sie wurde erregt, fieberhaft ungeduldig, so rasch als möglich zu Morange zu kommen, überzeugt, von ihm vertrauliche Mitteilungen zu erlangen, mit denen sie dann nach Belieben schalten zu können gedachte.
Der Wagen fuhr eben über den Pont de Jéna, und sie sah zum Fenster hinaus.
»Mein Gott, wie langsam das geht! Wenn es wenigstens regnete, das würde mir vielleicht ein wenig Erleichterung verschaffen.«
Sie dachte, daß ein plötzlicher Regenguß ihr mehr Zeit lassen würde, da die drei Männer dann gezwungen wären, unter irgendeinem Haustor Schutz zu suchen. Und endlich bei der Fabrik angelangt, ließ sie halten, ohne ihre Gefährtin auch nur bis zu dem kleinen Häuschen zu bringen.
»Sie entschuldigen mich, meine Liebe, nicht wahr? Sie brauchen nur um die Ecke zu gehen.«
Charlotte nahm lächelnd und liebenswürdig ihre Hand und behielt sie einige Sekunden in der ihrigen, als sie beide ausgestiegen waren.
»Selbstverständlich, und ich danke Ihnen vielmals für Ihre Freundlichkeit. Und sagen Sie, bitte, meinem Mann, daß sie mich in Sicherheit gebracht haben, denn er wird so leicht ängstlich, seitdem ich wieder in interessanten Umständen bin.«
Constance war gezwungen, ihrerseits zu lächeln und unter neuen Freundschaftsbezeigungen zu versprechen, daß sie den Auftrag ausrichten werde. »Auf Wiedersehen also morgen!«
»Auf Wiedersehen! Auf morgen!«
Es war nun bereits achtzehn Jahre, daß Morange seine Frau, Valérie, verloren hatte, acht Jahre, seit seine Tochter Reine tot war. Aber als ob diese Katastrophen gestern eingetreten wären, trug er immer noch schwarze Kleidung, führte ein scheues, abgeschlossenes Leben und sprach nur das Allernotwendigste. Er war übrigens wieder der musterhafte Angestellte geworden, der gewissenhafte, peinlich genaue Buchhalter, pünktlich auf die Minute, wie verwachsen mit dem Sessel, auf dem er seit nun bald dreißig Jahren jeden Morgen Platz nahm; denn seine beiden Frauen, wie er voll leidenschaftlicher Liebe seine teuren Abgeschiedenen nannte, hatten seinen Willen, seinen Ehrgeiz mit sich genommen, alles, was er eine Zeitlang sich bemüht hatte, für sie an Erfolg, an großem Reichtum, an glänzendem, luxuriösem Leben zu erstreben. Er, der so Verlassene, in seine Schwachheit, seine kindliche Furchtsamkeit Zurückverfallene, hatte nun keinen andern Wunsch mehr, als in diesem dunkeln gewohnten Winkel zu sterben, in dieser eintönigen Tätigkeit, die er jeden Morgen mit der Stumpfheit eines Pferdes in der Tretmühle wieder begann. Aber man vermutete, daß er zu Hause, in der Wohnung auf dem Boulevard de Grenelle, an der er eigensinnig festhielt, ein mysteriöses Leben führte, ein ganz eignes Sonderlingsdasein, dessen Geheimnis er mit ängstlicher Eifersucht hütete. Das Dienstmädchen hatte den Auftrag, niemand hereinzulassen. Sie selbst wußte übrigens nichts. Er überließ ihr wohl das Speisezimmer und den Salon, aber er duldete nicht, daß sie den Fuß ins Schlafzimmer, in das einstige eheliche Schlafzimmer setze, noch auch in das Zimmer Reines; nur er allein betrat diese Räume. Er schloß sich darin ein, um sie zu reinigen, obgleich man nicht wußte, was er eigentlich dort tat. Diese beiden Zimmer waren gleich von Schrecken umgebenen allerheiligsten Stätten, deren einziger Priester und deren einziger inbrünstiger Beter er zugleich war. Vergebens hatte das Dienstmädchen versucht, einen Blick hineinzuwerfen; vergebens drückte sie das Ohr an die Tür, wenn er die Feiertage darin verbrachte; sie konnte weder etwas sehen noch etwas hören. Keine Seele konnte sagen, welche Reliquien diese Kapellen enthielten, noch mit welchen religiösen Handlungen er sie verehrte. Ein andrer Gegenstand der Verwunderung war sein immer knickeriger werdender Geiz; er gab außer den sechshundert Franken Miete und dem Lohn des Mädchens nichts aus, als die wenigen Sous, die sie ihm nur mit großer Mühe für den Haushalt abringen konnte. Er war nun bei einem Gehalt von achttausend Franken angelangt, von dem er sicherlich nicht die Hälfte verbrauchte. Was geschah mit seinen großen Ersparnissen, deren Genuß er sich versagte? In welches geheime Versteck vergrub
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