Fruchtbarkeit - 1
drängte ihre Tränen zurück, blieb starr. Keine Reue kam über sie. Es war geschehen, es war gut so. Es hatte so sein müssen. Sie hatte ihn nicht gestoßen, er war allein gefallen. Wenn sie nicht dagewesen wäre, wäre er ebenso gefallen. Da sie also nicht dagewesen war, da ihr Verstand, da ihre Seele nicht dagewesen waren, so ging es sie nichts an. Und das Wort erhob sich immer wieder, sprach sie los, bejubelte den Sieg: er war tot, er würde die Fabrik nicht bekommen.
Inmitten des Salons stehend, horchte Constance indes angestrengt hinaus. Warum hörte sie nichts? Wie sie lange brauchten, um hinabzusteigen und ihn aufzuheben! Fieberhaft wartete sie auf den Aufruhr, auf den steigenden Lärm des Entsetzens, der aus der Fabrik heraufkommen sollte, die schweren Schritte, die lauten Stimmen – wartete mit angehaltenem Atem, bei dem leichtesten fernen Geräusche erbebend. Aber die Ruhe war endlos, nichts kam herauf als Schweigen. Wieder vergingen Minuten, sie fühlte sich glücklich über den warmen Frieden ihres Salons. Es war wie ein Asyl ehrsamer Bürgerlichkeit, vornehmer Behaglichkeit, wo sie sich beschützt, geborgen fühlte. Wohlbekannte kleine Gegenstände, ein mit einem Opal geziertes Parfümfläschchen, ein Papiermesser aus oxydiertem Silber, das in einem Buche steckte, gaben ihr ein Gefühl vollkommener Sicherheit. Sie war überrascht, sie da ruhig wiederzufinden, bewegt von ihrem Anblick, als ob sie eine neue Bedeutung gewonnen hätten. Dann überlief sie eine leichte Kälte, sie bemerkte, daß ihre Hände eisig waren. Sie rieb sie leicht gegeneinander, um sie ein wenig zu erwärmen. Warum empfand sie nun eine so große Mattigkeit? Es war, als ob sie von einem weiten Wege zurückgekehrt wäre, als ob sie irgendein Unfall betroffen hätte, als ob sie von Streichen zerschlagen wäre. Sie fühlte eine Art gesättigter Schläfrigkeit, als ob sie, nachdem sie zu hungrig gewesen, sich an etwas zu satt gegessen hätte. Wenn ihr Mann von seinen Orgien heimkehrte, hatte sie ihn manchmal so gesehen, so vollkommen ersättigt, daß er stehend einschlief, endlich ruhig geworden, ohne Wunsch und ohne Bedauern. Und auch sie wünschte nun nichts mehr, in der Mattigkeit, die sie einschläferte, lediglich erstaunt, sie wußte nicht worüber, unklar betroffen von irgend etwas. Sie horchte jedoch wieder hinaus, indem sie sich sagte, daß sie, wenn dieses erschreckende Schweigen fortdauere, sich niedersetzen, die Augen schließen, einschlafen werde. Und aus noch weiter Ferne schien ein leichtes Geräusch zu kommen, kaum ein Hauch.
Was war es? Nein, noch nichts. Vielleicht war alles nur ein grauenhafter Traum gewesen: der herankommende Mann, der Abgrund, der entsetzliche Schrei. Vielleicht war das alles gar nicht wahr, da sie nichts hörte. Von unten hätte der Lärm mit anschwellendem Brausen heraufkommen, eilig über die Treppen und Gänge laufende Schritte hätten ihr die Nachricht bringen müssen. Dann hörte sie wieder das leichte Geräusch, sehr entfernt, aber näherkommend. Es war jedoch keine Menge, kaum ein einzelner Schritt, wahrscheinlich der eines auf dem Kai Vorübergehenden. Aber nein, es kam aus der Fabrik, nun sehr deutlich, erst die Treppen herauf, dann einen Korridor entlang. Und die Schritte beschleunigten sich, und ein keuchender Atem wurde vernehmbar, so unheilverkündend, daß sie endlich das Entsetzliche kommen fühlte. Die Tür wurde aufgerissen.
Morange kam herein. Er war allein, fassungslos, totenbleich, stammelnd.
»Er atmet noch, aber er hat sich den Schädel eingeschlagen, er ist verloren.«
»Was haben Sie?« fragte sie. »Was ist geschehen?«
Er starrte sie verständnislos an. Er war atemlos heraufgelaufen, um eine Erklärung über die Katastrophe zu verlangen, die seinen armen Kopf zum Wahnsinn zu bringen drohte. Die anscheinende Unwissenheit und Gemütsruhe, in der er sie fand, machten ihn vollends verwirrt.
»Aber,« rief er, »ich habe Sie doch bei der Öffnung des Aufzuges gelassen!«
»Jawohl, Sie haben mich dort gelassen. Sie sind hinabgestiegen, und ich bin sogleich hierher gegangen.«
»Aber,« sagte er wieder mit verzweifelter Heftigkeit, »ehe ich hinabstieg, habe ich Sie doch gebeten, mich da zu erwarten, bei der Öffnung zu bleiben, damit niemand hinabstürze!«
»O nein. Sie haben mir nichts gesagt, oder ich habe wenigstens nichts dergleichen gehört oder verstanden.«
Entsetzt fuhr er fort sie anzustarren. Sie log sicherlich. Wenn sie sich auch ruhig stellte, er hörte
Weitere Kostenlose Bücher