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Fruchtbarkeit - 1

Fruchtbarkeit - 1

Titel: Fruchtbarkeit - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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behalten hatte. Mit zweiundsechzig Jahren sah sie wie eine Hundertjährige aus, ihr dreistes Gesicht wie von Gewitterstürmen durchfurcht, ihre sonnigen Haare ausgelöscht unter einem Aschenregen. Um Mitternacht war sie noch immer da, neben dem Totenbette, das sie nicht zu sehen schien, in diesem schauererfüllten Zimmer, unbeweglich wie eine leblose Sache, ohne scheinbar zu wissen, warum man sie hierhergebracht hatte.
    Weder Mathieu noch Boutan wollten fortgehen; sie wollten die Nacht hier verbringen, um Constance nicht mit der alten Magd allein zu lassen, während Monsieur sich in Nizza in Gesellschaft der beiden Damen, der Tante und Nichte, befand. Und um Mitternacht wurden sie, während sie leise miteinander sprachen, aufs höchste überrascht, als Sérafine plötzlich den Mund öffnete, nachdem sie mehr als drei Stunden vollkommen geschwiegen hatte.
    »Wissen Sie schon, daß er tot ist?«
    Wer war tot? Sie verstanden endlich, daß sie von Gaude sprach. In der Tat, man hatte den berühmten Chirurgen auf einem Diwan seines Ordinationszimmers gefunden, von einem plötzlichen Tode ereilt, dessen Ursachen nicht genau bekanntgeworden waren. Die seltsamsten und schlüpfrigsten Geschichten liefen darüber um, manche widersinnig und manche tragisch. Mit achtundsechzig Jahren war Gaude, ein unbußfertiger Hagestolz, noch sehr frisch geblieben, sagte man, und genoß noch immer gern, wenn junge Patientinnen, dankbare Operierte ihm Liebe boten. Mathieu hatte sich eines grauenhaften Wunsches erinnert, den Sérafine, in ihrer Wut darüber, mit ihrem Geschlechte auch die Genußfähigkeit unter dem Messer verloren zu haben, eines Tages zu ihm geäußert hatte: »Ah, wenn wir eines Tages alle zu ihm gingen, alle, die er kastriert hat, und ihn unserseits kastrierten!« Sie waren ihrer Tausende und Tausende, sie sah sie alle mit sich, hinter sich, eine Schar, eine Armee, ein Volk, eine Flut von hunderttausend Unfruchtbaren, die die Mauern des Ordinationszimmers in dem wilden Ansturm ihrer Rache zersprengt hätten. Und es hatte Mathieu tief ergriffen, als ihm unter den seltsamen Geschichten, die über den plötzlichen Tod Gaudes umliefen, eine zu Ohren gekommen war, die besagte, daß man ihn entkleidet, verstümmelt, blutend auf dem Diwan gefunden habe. Als Sérafine auf Mathieus Blick traf, der sie ansah, wie in einem schweren Traume befangen, durchschauert von dem Wachen in diesem traurigen Zimmer, ging wieder das irre Zucken über ihr Gesicht, und sie sagte:
    »Er ist tot, wir waren alle dort.«
    Es war toll, unwahrscheinlich, unmöglich; und dennoch, war es Wahrheit oder nicht? Und ein eisiger Schreckenshauch wehte hin, der Hauch des Geheimnisses, dessen, was man nicht weiß, was man nie wissen wird.
    Boutan hatte sich zum Ohre Mathieus geneigt: »Ehe acht Tage um sind, wird sie in der Tobsüchtigenzelle sein.«
    Acht Tage später steckte die Baronin de Lowicz in der Zwangsjacke. Bei ihr hatte die Kastration auf das Gehirn gewirkt, die rasende Begierde, die sie nicht mehr stillen konnte, hatte ihren Geist verwüstet. Sie wurde ganz isoliert, man konnte niemand zu ihr lassen, denn in ihren Anfällen von Obszönität sagte sie gemeine Worte und machte abscheuliche Gebärden.
    Mathieu und Boutan wachten bis zum Morgen bei Constance. Sie öffnete die Lippen nicht, schlug die Augen nicht auf. Als die Sonne sich erhob, wendete sie sich gegen die Wand und starb.
     
     

4
    Wieder vergingen Jahre, und Mathieu zählte bereits achtundsechzig Jahre, Marianne fünfundsechzig, als mitten in dem wachsenden Gedeihen, das sie ihrem Glauben an das Leben, ihrem ausdauernden Hoffnungsmute dankten, ein letzter Kampf, der schmerzvollste ihres Lebens, sie beinahe niedergeworfen, und sie verzweifelt, trostlos ins Grab gebracht hätte.
    Marianne hatte sich eines Abends zu Bett gelegt, tief verwundeten Herzens, von Fieberschauern geschüttelt. In der Familie war eine Spaltung eingetreten und vergrößerte sich von Tag zu Tag. Ein unseliger Streit, der immer abscheulicher wurde, hatte die Mühle, wo Grégoire regierte gegen den Hof erbittert, wo Gervais und Claire herrschten; und, als Schiedsrichter aufgerufen, hatte Ambroise von seinem Kontor in Paris aus noch Oel ins Feuer gegossen, indem er mit der kurzen Entschiedenheit des großen Geschäftsmannes urteilte, ohne den entzündeten Leidenschaften Rechnung zu trafen. Eben von einem Gange zu ihm zurückgekehrt, den sie in dem mütterlichen Wunsche nach Frieden unternommen, hatte Marianne sich zu Bette

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