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Frühling der Barbaren

Frühling der Barbaren

Titel: Frühling der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Lüscher
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zurück, zurück in die Geschichte, in die Geschichte vieler Generationen, und es weist voraus, auf zukünftige Generationen. Es reflektiert», ließ er sich von seinen eigenen Worten mitreißen, «die große Kette der Wesen. Ihr Sohn, er wird selbst eines Tages Vater sein, und dann wird er sich ihrer Worte erinnern. Dieses Gedicht, es ist wichtig. Pippa, rezitieren Sie es heute Abend.»
    Sie warf ihm einen zweifelnden Seitenblick zu. «Meinen Sie wirklich? Ich werde mich damit lächerlich machen.»
    «Nein», rief ein enthusiasmierter Preising, der nur wenig von der Beziehung zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern verstand, «rasseln Sie mit den Kastanien.»
    «Rasseln Sie mit den Kastanien?» Der englische Soziologe, der ganz unvermittelt auf der Felsenterrasse aufgetaucht war, musterte Preising amüsiert, als habe jener seiner Frau gerade ein ebenso unanständiges wie nicht ernst zu nehmendes Angebot unterbreitet. Preising setzte zu einer längeren Erklärung an, bei der ihm der Name des Philosophen, den er bereits vergessen hatte, sehr fehlte, wurde aber bald von Pippa unterbrochen, die ihren Mann bat, den gemeinsamen neuen Freund nicht zu verschrecken.
    Sanford war gekommen, um Pippa zu bitten, mit Saida einige letzte Details zu besprechen, da sich Mrs. Ibbotson noch immer unwohl befinde, hinsichtlich der Tischordnung aber noch Unklarheit herrsche und dies eine Sache sei, die Saida nur mit der Familie zu besprechen bereit war. Pippa weigerte sich erst; er, Sanford, könne das genauso gut übernehmen, doch nun hatte er seine Frau davon zu unterrichten, dass Saida nicht besonders gut auf ihn zu sprechen sei, weswegen wisse er auch nicht so recht, sie scheine ihm eine recht komplizierte Frau, ja, kompliziert und auf ihre Art auch recht empfindlich. Pippa schaute ihren Mann skeptisch an. Preising konzentrierte sich darauf, eine Zitronenscheibe aus seinem Wasserglas zu klauben, und war froh, dass sie es darauf beruhen ließ. Sie erhob sich, küsste ihren Mann auf den frisch rasierten, mageren Hals, und bevor sie ging, bat sie Preising, doch abends ihr Gast zu sein, sie und Sanford würden sich freuen, und Kelly und Marc hätten bestimmt nichts dagegen. Preising protestierte. Für einen solchen Anlass fehle es ihm an der richtigen Garderobe, doch die beiden überzeugten ihn, der Dresscode sei ganz casual, und Sanford befand, der Seersucker-Anzug eigne sich doch hervorragend. Was einer englischen Hochzeit in der tunesischen Wüste noch fehle, sei doch ein Schweizer Geschäftsmann im Kostüm eines Südstaatenjunkers.

    1 Axtgriffe
    An einem Nachmittag in der letzten Woche im April//Zeige ich Kai wie man ein Beil wirft//Eineinhalb Drehungen und es steckt in einem Stumpf.//Er erinnert sich an den Beilkopf//Ohne Griff, in der Werkstatt//Er holt ihn sich, und will ihn haben.//Ein abgebrochener Axtgriff hinter der Tür//Ist lang genug für ein Beil,//Wir sägen ihn in die richtige Länge und bringen ihn//Zusammen mit dem Kopf//Und dem Arbeitsbeil, zum Holzklotz.//Da fange ich an den alten Griff zu formen//Mit dem Beil, und dem Satz//Den ich zuerst von Ezra Pound gelernt habe//im Ohr!//«Wenn man einen Axtgriff schnitzt//ist das Muster nicht weit weg.»//Und ich sage zu Kai//«Schau: Wir formen den Griff//Indem wir den Griff//Der Axt, mit der wir schnitzen, prüfen –»//Und er versteht. Und ich höre es wieder://Es steht in Lu Jis Wen Fu «Essay über Literatur» aus dem//vierten Jahrhundert n. Chr. – im//Vorwort: «Beim Herstellen des Griffs//Einer Axt//Durch das Schnitzen von Holz mit einer Axt//Ist die Vorlage fürwahr nah bei der Hand.» –//Mein Lehrer Shih-hsiang Chen//Übersetzte dies und lehrte es vor Jahren//Und ich verstehe: Pound war eine Axt,//Chen war eine Axt, ich bin eine Axt////Und mein Sohn ein Griff, bald//Wird er selber formen, Vorlage//Und Werkzeug, Handwerk der Kultur,//So fahren wir fort.

V
    Preising schlüpfte also zu gebotener Zeit wieder in den Seersucker-Anzug, dabei an den verblüffend grünen Rasen denkend, auf dem jenes Gartenfest in den Hamptons stattgefunden hatte, in dessen Verlauf ihn die Freundin, die er begleitete und die ihm zu diesem Anlass ebendiesen Seersucker gekauft hatte, mit einer beträchtlichen Anzahl in beschlagenen Silberbechern gereichten Mint Juleps betrunken machte. Und deren eindeutigen Avancen mit allen unvorhersehbaren Konsequenzen Preising nur entkommen war, weil ihr zu später Stunde eines der zahlreichen anwesenden sowohl völlig übermüdeten wie auch

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