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Frühling der Barbaren

Frühling der Barbaren

Titel: Frühling der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Lüscher
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Lebens, in dem sich der amerikanische Philosoph, dessen Namen mir leider entfallen ist, befunden hatte, als er jene Zeilen schrieb, denn er habe damals bereits mit einer tödlichen Diagnose gelebt. Und es sei ja wohl offensichtlich, dass das Aufsagen von Gedichten doch eher zum Herbst des Lebens und nicht zur Blüte der Jugend gehöre. Sie seufzte schwer und versenkte einen melancholischen Blick in das Meer aus Palmwedeln zu unseren Füßen.
    Es tat mir redlich leid, dass sie sich nun unversehens im Herbst ihres Lebens wiederfand, nur weil ihr Sohn in den Bund der Ehe eintreten wollte. Wiewohl ich zugeben muss, dass diese jungen Leute ein Talent dafür besaßen, einem das Gefühl zu geben, man sei alt.»
    Das lag aber nicht an ihrem unverschämt jugendlichen Aussehen, wie Preising fälschlicherweise annahm. Nicht an ihren vollen Haarschöpfen, ihren flachen Bäuchen und schmalen Hüften. Auch nicht an ihrem ausgelassenen Treiben, ihrem lauten Tun, dem Spielerischen ihrer Gesten, dem ironischen Unterton, der jede ihrer Äußerungen begleitete. Letzten Endes lag es daran, dass es ihnen gelang, dieses Spiel, das sie da spielten, als Ernst zu verkaufen. Und das gelang ihnen natürlich nur, weil es so wirkmächtig war, dieses Spiel. Und die Kraft lag im Geld, in den ungeheuren Summen, mit denen sie tagtäglich hantierten, und in den obszönen Gehältern, die sie bezogen. Wie konnte etwas, das so große Auswirkung auf die Gesellschaft hatte, als Spiel abgetan werden?
    Wie sinnlos dieses Unterfangen war, hatte selbst Willy, nach der dritten Flasche Heineken in seinem gelben Schwimmring treibend, eingesehen. Wo das Geld ist, ist die Wahrheit. Darum, so dachte sogar Mary Ibbotson mit dem staubigen Geschmack von Kohletabletten auf der Zunge, ist sich der Volksmund auch nicht einig, was sich am Ende des Regenbogens finden ließ. Auf den Kanalinseln, so wusste Mary Ibbotson, die auf Guernsey eine Cousine hatte, erzählten sich die Leute, am Ende des Regenbogens sei die Wahrheit zu finden. Bei ihr zu Hause aber, in Liverpool, da sagte ein altes Kinderlied, am Ende des Regenbogens warte ein Schatz. Und weil sie ihren analytischen Fähigkeiten nicht traute, dachte sie den Gedankengang nicht zu Ende, und es blieb eine diffuse Vorstellung, dass sich am Ende des Regenbogens vermutlich beides finden ließe, sowohl Geld wie auch die Wahrheit. Oder, was noch wahrscheinlicher war, dass beides eins und somit Geld auch Wahrheit sei, was ihrer Cousine recht gegeben hätte. Das wiederum ergab Sinn, denn von Geld verstanden sie auf Guernsey schließlich was. Es gelang ihr aber, den Gedanken beiseitezuschieben, da sie jene Cousine noch nie gemocht hatte.
    Es waren aber nicht nur die Ibbotsons, die sich mit diesen Gedanken plagten, auch Sanford, der seinen analytischen Fähigkeiten sehr traute, kam nicht umhin, zu einer beunruhigenden Einsicht zu gelangen, dass nämlich eine pervertierte Gesellschaft zu einer pervertierten und ordinären Version von William James’ Barwertthese gelangt sei, ein Gedanke, der ihm einen Schauder den Rücken hinunterjagte. Denn wenn James recht hatte, und er war bei Weitem noch nicht bereit, daran zu zweifeln, dass das Nützliche wahr sei, dann sei die Problematik der sich seit den Tagen Margaret Thatchers immer weiter öffnenden Einkommensschere nicht nur eine der ungleichen Verteilung von Geld, sondern auch eine der ungleichen Verteilung von Wahrheit. Eine Einsicht, die ihm auf gesellschaftlicher Ebene Furcht einflößte und ihn auf privater Ebene mit dem Gefühl zurückließ, sein Leben, sein Beruf, seine Überzeugungen seien marginalisiert, zu bloßen Spielen degradiert, aber, da er sich in jenem Moment keinesfalls jünger fühlte, nicht zu Kinderspielen, sondern zu Rentnerspielen, zu frivolen Pensionärshobbys; Soziologie, Golf, Pétanque, Kommunitarismus und Bingo: alles dasselbe. Kurzum, er kam sich in der Gegenwart seines Sohnes und dessen Freunden alt vor, ebenso wie seine Frau, die, etwas weniger analytisch veranlagt, deutlich spürte, dass die ebenso breitbrüstige wie schmalhüftige Erzählung der Finanzmärkte ihren Englischunterricht, ihre Lesekreise und ihre Leidenschaft für Poesie für nutzlos erklärte.
    Was Preising anging, verhielt sich die Sache etwas anders. Wenn Geld Wahrheit war, dann hatte er jede Menge Wahrheit auf seiner Seite. Was die Finanzkraft anging, so hätte die Deutungshoheit darüber, was als Spiel und was als Ernst betrachtet werden soll, bei ihm liegen müssen. Weshalb also

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