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Frühling der Barbaren

Frühling der Barbaren

Titel: Frühling der Barbaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Lüscher
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Freund der bürgerlichen Küche, bürgerlich im besten Sinne, also eher Citoyen als Bourgeois. Und Weine, ich sage dir, Weine … Aber du willst es ja nicht hören», unterbrach er sich nach einem prüfenden Seitenblick in meine Richtung.
    «Item», fuhr er fort, «ich saß also an einer runden Tafel am hinteren Ende des Speisesaals mit fünf der jungen Leute, alle nicht zum engsten Kreis gehörend. Die Lage etwas abseits vom Zentrum des Geschehens, mit der ich mich selbstredend zufriedengab, schließlich war ich ein nahezu Fremder, dessen Bekanntschaft mit der Familie des Bräutigams nicht anders als in der ersten Blüte stehend beschrieben werden konnte, hatte einerseits den deutlichen Vorteil, dass wir so weit wie nur möglich von der Bühne entfernt saßen, auf der eine Combo eine Art diskothekentauglichen Tango auf elektrischen Instrumenten spielte, und ich mich so besser auf die angeregten Gespräche mit den jungen Leuten konzentrieren konnte, andererseits war ich doch gar weitab vom Geschehen, als Pippa vor dem Auftragen des Desserts – ein Pistazien-Semifreddo mit Bitterorangenröster –, zu dem ein gehaltvoller Sauternes gereicht wurde, sich ein Herz fasste, die Bühne erklomm und aufs Trefflichste mit den Kastanien rasselte, sodass bereits nach zwei, drei Zeilen eine andächtige Stille die Festgesellschaft erfasste und ich lauter ergriffene Gesichter um mich herum erblickte. Pippa schlug sich wundervoll. Ich hätte ihr mit geschlossenen Augen eine Ewigkeit lauschen können, und der, ja, ich würde sagen: frenetische Beifall, den das Ende von Pippas Vortrag auslöste, holte mich unsanft von weit her wieder zurück.»
    Der frenetische Beifall hatte eher den Charakter einer Übersprunghandlung, dazu geeignet, das betretene Schweigen zu vertreiben, das Preising als andächtige Stille beschrieben hatte.
    Eigentlich hatte sich Pippas Auftritt ganz gut angelassen. Sie hatte mit Sanford, dem Brautpaar, deren Trauzeugen Jenny und Rob, einem jungen Mann, ebenfalls aus der Finanzbranche, mit dem Marc viele Jahre zusammengewohnt hatte, bevor er und Kelly sich zum Dreißigsten das Reihenhaus in Barnsbury geschenkt hatten, und den Ibbotsons an einem Tisch gesessen. Jenny, froh, dass die Zeremonie einigermaßen glatt über die Bühne gegangen war, erheiterte die Gesellschaft mit einer langen Geschichte über die technischen Unzulänglichkeiten ihres neuen Arbeitsplatzes, dem neu errichteten Hauptsitz einer großen Bank, der sich neben anderen architektonischen Markenzeichen in der Londoner City zu behaupten versuchte und die dazu nötigen Distinktionsmerkmale vor allem in einer ungewöhnlichen, die Grenzen des Machbaren ausdehnenden Statik suchte, die allerdings zu ganz ungewöhnlichen Fallwindphänomenen führte. Die Revolvertüren am Haupteingang entwickelten bei bestimmten Wetterverhältnissen trotz Motorbetriebes ein Eigenleben und begannen sich immer schneller und schneller zu drehen. Bei Ostwind und gleichzeitigem Tiefdruck konnte das Gebäude nur durch die Notausgänge, die in eine enge und schmutzigen Gasse führten, betreten und verlassen werden, bis man schließlich die Drehtüren durch elektrische Schiebetüren ersetzte. Und dennoch, so erzählte Jenny, gab es Tage, an denen man das Gebäude nur zwischen zwei Windböen verlassen konnte, sodass sich zur Mittagszeit ganze Trauben von Bankangestellten im Foyer vor der Tür versammelten, um im richtigen Moment, fluchtartig, einander beinahe tottrampelnd, aus dem Gebäude zu stürzen. Bei starkem Regen allerdings könne es vorkommen, dass beim Öffnen der Schiebetüren wie Gischt das schmutzige Wasser von der Straße ins Foyer aus grünem Marmor fege und gegen das monumentale Rakelbild von Richter spritze, sodass man dieses bereits aufwendig habe restaurieren und mit einer gigantischen entspiegelten Glasscheibe versehen müssen. Damit war ein dankbares, Klassen- und Altersunterschiede überwindendes Thema gefunden. Zur Dysfunktionalität moderner Architektur wusste jeder am Tisch eine Geschichte zu erzählen, außer vielleicht Mary Ibbotson, die nie über Architektur nachdachte. Aber selbst ihr Mann taute auf und berichtete von den unmöglichen Urinalen im neuen Stadion seiner Fußballmannschaft.
    In derart gelöster Stimmung, selbstsicher, vom Alkohol angewärmt und noch Preisings aufmunternde Worte im Ohr, hatte Pippa dem Bandleader ein Zeichen gemacht und zielstrebig die Bühne erklommen. Sie hatte sich ans Mikrofon gestellt und in aller Ruhe das Verstummen der

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