Frühstück im Bett
Pfütze. Wie morsche Gebeine lagen
zerbrochene Möbelteile herum. Unterhalb des Fahrkartenschalters stapelten sich vergilbte Zeitungen, leere Konservendosen verrieten, dass sich irgendwann mal jemand hier einquartiert hatte. Sugar Beths Stauballergie meldete sich, und sie musste niesen. Als sie sich von dem Anfall erholt hatte, knipste sie ihre Taschenlampe an und begann nach dem Gemälde zu suchen.
An den Wartesaal grenzten mehrere kleine Lagerräume mit Schränken. Das Büro lag hinter dem Fahrkartenschalter. In den Toiletten sah sie freigelegte Rohre, fleckiges zerbrochenes Porzellan, eine unbeschreibliche Sauerei. Zwei Stunden lang durchwühlte sie zertrümmertes Mobiliar, Kisten voller Unrat, zerkratzte Aktenschränke. Doch sie fand kein Bild, nur Mäusedreck und einen toten Vogel, der sie erschauern ließ.
Schließlich sank sie auf eine Bank – schmutzig und niesend und frustriert. Falls Tallulah das Gemälde weder im Kutschenhaus noch im Bahnhof versteckt hatte – wo mochte es sein? Am nächsten Morgen würde Sugar Beth die überlebenden Mitglieder des Canasta-Clubs befragen. Die würden sich zwar den Mund über sie zerreißen, aber als engste Freundinnen ihrer Tante kannten sie wahrscheinlich deren Geheimnisse. Ebenso deprimierend wie die erfolglosen Nachforschungen war ihre Barschaft – nämlich, auf fünfzig Dollar zusammengeschmolzen. Wenn sie nicht verhungern wollte, musste sie sich einen Job suchen.
»Welch ein zauberhaftes Ambiente …«
Sie nieste und drehte sich zu Colin Byrne um, der in der offenen Tür stand und den Eindruck erweckte, er wäre gerade übers Moor gewandert – in Stiefeln, einer dunkelbraunen Hose und einem Tweedjackett, mit fashionable zerzaustem Haar. Doch der kalte, verächtliche Glanz in seinen Augen erinnerte kein bisschen an einen kultivierten Briten, eher an einen Wilderer. »Möchten Sie wieder über mich herfallen? Dann sollten Sie den Schutzbeutel Ihrer Geschlechtsteile fester schnallen, denn diesmal werde ich Sie nicht so rücksichtsvoll behandeln.«
»Schon gut, die Toleranzschwelle meines Körpers hat gewisse Grenzen.« Er steckte einen Bügel seiner Designer-Sonnenbrille in den offenen Hemdkragen und schlenderte durch den Warteraum. »Interessant, dass Tallulah Ihnen den Bahnhof vererbt hat – allerdings kein Wunder, wenn man an ihren ausgeprägten Familiensinn denkt.«
»Wollen Sie die Ruine kaufen? Ich mache Ihnen einen günstigen Preis.«
»Nein, danke.«
»Eigentlich müssten Sie sich erkenntlich zeigen, nachdem Ihnen dieses Gemäuer ein Vermögen eingebracht hat.«
»In der ›Letzten Station‹ geht es um die Stadt – der Bahnhof stellt nur eine Art Metapher dar.«
»Oh, ich dachte, eine Metapher wäre ein Diätgetränk. Kleiden Sie sich regelmäßig wie eine Schaufensterpuppe?«
»So oft wie möglich – ja.«
»Sie sehen albern aus.«
»Und Sie sind natürlich die ultimative Modeexpertin.« Geringschätzig musterte er Sugar Beths schmutzige Jeans und das fleckige Sweatshirt.
Sie nahm ihren Cowboyhut ab und wischte Spinnweben von ihrer Wange. »Übrigens, Sie waren ein schlechter Lehrer.«
»Geradezu miserabel«, bekräftigte er und stieß mit einer Stiefelspitze gegen ein abgerissenes Kabel.
»Ein Lehrer sollte das Selbstvertrauen seiner Schüler stärken. Aber Sie nannten uns kleine Kröten.«
»Nur in eurer Anwesenheit. Hinter eurem Rücken benutzte ich viel schlimmere Wörter.«
O ja, er war ein grauenhafter Lehrer gewesen – sarkastisch, kritisch, ungeduldig. Aber hin und wieder auch wundervoll. Sie erinnerte sich an seine Art, literarische Meisterwerke vorzutragen. Wie düstere Musik waren die erhabenen Texte von seiner Zunge geströmt. Manchmal herrschte tiefe Stille im Klassenzimmer. Sugar Beth stellte sich vor, sie würden alle in dunkler Nacht an einem Lagerfeuer sitzen. Sogar die faulsten
Schüler und Schülerinnen konnte er inspirieren, die dümmsten Kids begannen Bücher zu lesen, fanatische Sportler verfassten Gedichte. Und die schüchternen Teenager hatten sich plötzlich zu Wort gemeldet – wenn auch nur, um Byrnes ätzendem Hohn zu entrinnen. Verspätet entsann sie sich, dass er auch der Lehrer gewesen war, der ihr endlich beigebracht hatte, Sätze zu schreiben, die einen Sinn ergaben.
Während sie ihren Hut wieder aufsetzte, betrachtete er angeekelt die schale Pfütze am Boden. »Ich habe gehört, Sie wären nicht zum Begräbnis Ihres Vaters gekommen. Ist es wahr? Das fände ich schändlich, sogar angesichts
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