Frühstückspension: Kriminalroman
ich, und etwas von der Kraft kommt zu mir zurück. »Auf dem Weg an die Nordsee habe ich einen Anhalter mitgenommen.«
»Einen Anhalter? Du?«
»Ja, ich.«
Und weil ich um nichts mehr kämpfen muss, sage ich ehrlich: »Ich war so unglücklich und einsam. Und er hat dir ähnlich gesehen.«
Reinhard nickt, als könne er das verstehen. Dabei wird es ihm nur bestätigen, dass ich ohne ihn nicht leben kann. Ich werde ihm nicht das Gegenteil beweisen können.
Er schenkt erneut sein Glas voll. Mir schießt der in dieser Situation wahrscheinlich unsinnigste Gedanke durch den Kopf: Wie viele Gläser sind eigentlich in einer 0, 7l-Flasche?
Reinhard lehnt sich zurück und fordert, ohne mich anzusehen: »Erzähl!«
Erzähl, denke ich. Wie großzügig. Er entscheidet einmal wieder, wann ich reden darf. Lass es, Teresa. Denk dich nicht in Wut. Es ist vorbei. Meine Zukunft wird anders sein. Anders, als ich sie mir vorgestellt habe. Keine Ahnung wie. Ich muss versuchen, einen Weg für mich zu finden. Aber Wut wird mir dabei nicht weiterhelfen.
Vorher muss ich eine Entscheidung für Jochen treffen. Die Zeit drängt. Wie soll ich Reinhard die Geschichte erklären? Gar nicht. Nur erzählen und zwar von Anfang an. Ich habe noch nie einen Anhalter mitgenommen. Es gibt zum Glück auch nicht mehr so viele. Nicht aus Angst vor ihnen, sondern weil ich allein sein will. Musik, Landschaft und meine Gedanken baumeln lassen. Das geht beim Fahren viel leichter.
»Bei Delmenhorst leuchtete die Tankanzeige auf. Ich bin auf die nächste Raststätte gefahren. Sie ist angenehm. Vor allem gibt es dort saubere Toiletten. Das wusste ich noch vom letzten Mal. Als ich zurückkam, stand er neben meinem Wagen. Er sah mich an, als habe er auf mich gewartet. Ich habe mich nicht bedroht gefühlt. Die Situation hatte eine Selbstverständlichkeit, und ich fragte ihn, wo er hin wolle? Er meinte, egal. Nur nicht zurück. Dann lächelte er: Am liebsten in den Norden an die See. Da will ich auch hin, antwortete ich. Er stieg ein und sagte, er heiße Jochen.
Jochen ist in deinem Alter und er ist obdachlos. Man sah es ihm auch an. Allerdings erst auf den zweiten Blick. Er erklärte mir, dass man ihm gerade sämtliche Papiere und seinen Schlafsack geklaut hätte. Seinen gesamten Besitz.«
»Diese Geschichte erzählen sie alle«, wirft Reinhard ungeduldig ein.
»Seine entsprach der Wahrheit«, widerspreche ich energisch.
»Warum ausgerechnet seine?«
»Er hatte nichts mehr zu verlieren und keinen Grund zum Lügen. Er hat seine Abschiedsfahrt gemacht und wollte ans Meer. Er war sehr traurig.«
Reinhard verdreht seine Augen in Richtung Wagendecke und atmet tief durch. Ich sehe zur Seite und konzentriere mich. Jetzt nur nicht verheddern. Einfach weitererzählen.
»Ohne, dass er diese Traurigkeit zu seinen Gunsten eingesetzt hat«, stelle ich entschieden klar.
»Ich sagte ihm, er müsse seine Papiere als vermisst melden und neue beantragen, sonst bekäme er Ärger. Da hat er gelacht. Es war so ein federleichtes Lachen. Es hat mich sehr berührt.«
Reinhard hüstelt neben mir und erinnert mich daran, wem ich diese Geschichte erzähle.
»Er meinte: Ärger ist nichts Neues für mich. Lieb von Ihnen, dass Sie sich Gedanken machen. Hat lange keiner mehr. Aber ich brauche keine Papiere mehr. Ich habe ihn erschrocken angesehen. Da hat er wieder gelacht. Nein, keine Sorge, nicht, was Sie denken. Ich möchte ans Meer. Da ist man frei.
Sein Lachen täuschte mich nicht. Mir war auf einmal klar, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Es hat ihm keine Angst gemacht. Das war das Faszinierendste für mich und hat mir meine eigene Unruhe genommen. Ich habe ihn noch gefragt, ob er keine Familie hätte. Nein, Familie ist lange her, sagte er und ich merkte, dass er nicht darüber sprechen wollte. Er fragte, ob ich Musik hätte. Musik und die Abendstimmung auf der Autobahn durch Ostfriesland.
Dann ist der Reifen geplatzt«, sage ich nur noch zu Reinhard. Er hätte eh nicht mehr länger zugehört.
Der Unfall ist in mein Gedächtnis gemeißelt. Ich spüre, wie ich durch die Luft getragen werde. Ohne ein bestimmtes Ziel. Wieder wundere ich mich, dass ich keine Angst hatte. Manchmal wünschte ich, ich wäre auch nicht angeschnallt gewesen.
»Und nun fühlst du dich verantwortlich. Kannst ihn nicht allein lassen«, rekapituliert Reinhard laut. Dass er die Fakten erkennt, bedeutet nicht, dass er sie auch versteht. Diesen Unterschied habe ich bei ihm erst spät
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