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Fuchserde

Fuchserde

Titel: Fuchserde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Sautner
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nach oben. Mit beiden Händen klammerte er sich am untersten Ast einer Buche fest, zog sich nach oben, schwang ein Bein über den doppelt armdicken Ast und schaffte es mit letzter Kraft, seinen Körper seitwärts nach oben zu drehen. Er richtete sich auf und stieg und kletterte und hantelte sich von einem Ast zum nächsthöheren. In etwa sieben Metern Höhe zwängte er seinen Körper zwischen den Baumstamm und einen starken, steil nach oben gewachsenen, dicken Ast. Peter wusste, dass sein Atem noch zu laut war. Viel zu laut, denn ein Baum atmet ganz leise. Und zum Baum musste er werden, das wusste Peter, um nicht bemerkt zu werden.
    Er umfasste den Stamm, der hier oben noch immer so dick war, dass Peters Fingerkuppen sich gerade noch berührten. Peter legte sein Gesicht auf die kalte, beinahe glatte Rinde. Er schloss die Augen und atmete den stolzen, kühlen Duft dieser Buche. Er spürte ihre Kraft und ihren Halt. Er fühlte ihre Krone, deren Äste und Zweige sich harmonisch im sanften, kühlen Wind bewegten, empfand die Macht ihres Stammes und wusste vom Saft ihrer Wurzeln. Er dankte ihr für ihre Gastfreundschaft und strich mit seinen Händen über sie. Er wandte sein Gesicht und legte die andere Wange auf ihre Rinde. Sie war nun nicht mehr kalt an dieser Stelle und Peters Atem ging nicht mehr schnell.
    Peter hörte die SS-Männer näher kommen. Sie liefen noch immer, wurden jetzt aber langsamer. Peter verbot sich, zu ihnen zu sehen. Sie hätten seinen Blick spüren können. Peter hörte, wie sie auf ihn zukamen. Sie hatten aufgehört zu laufen. Nun gingen sie. Ihr Atem war wild, sie schnauften und redeten miteinander. Der eine fragte den anderen, ob er etwas sehe. Der andere sagte: »Nein, nichts.« Peter hörte, dass sie nur noch wenige Schritte hinter ihm waren, dass sie noch langsamer wurden, dass sie direkt unter ihm waren, dass sie unter ihm, dem Baum, durchgingen, dass sie sich von ihm entfernten.
    »Was sollen wir tun?«, fragte der eine.
    »Warte einmal«, sagte der andere, »horch«.
    Peter hörte ihren Atem.
    Sie hörten nichts.
    »Nichts, oder?«, sagte der eine.
    »Nein, nichts«, sagte der andere.
    »Der muss schon weiter weg sein«, sagte der eine nach einer Weile.
    »Wahrscheinlich«, antwortete der andere und meinte dann: »Lass uns zurückgehen.«
    Peter hörte die beiden wieder auf sich zukommen. Er hörte sie wieder unter sich, dem Baum, durchgehen. Er hörte, wie sie sich langsam vom ihm entfernten. Weit weg hörte er dann ihre Stimmen, konnte aber deren Bedeutung, den Sinn ihrer Rede nicht mehr erkennen. Peter hörte den Wind. Er säuselte ganz leise ein Lied und der Wald pfiff dazu. Weiter weg hörte Peter Äste aneinander schaben und Zweige dumpf gegeneinander klacken. Peter spürte den Wind. Er war Dirigent. Peter hörte sein Konzert. Dann vernahm Peter ein Rauschen, ein Rauschen in der Luft, eines, das rasch näher kam. Er hörte schnelles Schlagen von Flügeln, von Federn über sich. Peter fühlte, wie ein starker Zweig umklammert wurde, spürte, wie dieser Zweig nach unten gebogen wurde. Ein Habicht hatte sich niedergelassen. Der Zweig schwang noch einige Momente nach. Auf und ab, auf und ab schwang der Zweig. Peter erlebte es, so, als ob sich ein Schmetterling auf seinem Haar niedergelassen hätte. Es war ein schönes Gefühl. Durch lautes Knattern wurde es unterbrochen. Knattern in der Ferne. Das musste das Motorrad der beiden sein. Mit der Zeit wurde es leiser.
     
    * * *
     
    Für die Jenischen bedeutete die Machtübernahme der Nazis das Ende ihrer traditionellen Lebensweise. Es herrschte ein generelles Hausierverbot, und Nicht-Sesshaftigkeit galt als asozial und war strafbar.
    Während des Nationalsozialismus gab es zudem das Gesetz zur »Verhütung von erbkrankem Nachwuchs«. Auch die Jenischen waren davon betroffen, da das Vagabundieren als vererbbarer Defekt galt. Wie viele Jenische während der Nazidiktatur in Konzentrationslagern umkamen oder zwangssterilisiert wurden, ist nicht bekannt. Grobe Schätzungen gehen von mindestens hunderttausend Menschen aus. Am 3. Dezember 1942 etwa schreibt die Abteilung II der SS-Kommandantur Auschwitz einer Frau aus Sitzenthal bei Loosdorf in Niederösterreich, dass ihre Schwester an den »Folgen von Grippe« gestorben und »im staatlichen Krematorium Auschwitz eingeäschert« worden sei. Zuvor hatte die Frau einen persönlichen Brief von ihrer Schwester bekommen. Im Text, der die Zensur passierte, weil er bis auf eine unbemerkte Ausnahme

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