Fuchserde
vorne, sondern nur noch auf seine Füße. Anfangs tat er das, um über keine Wurzeln zu stolpern. Dann tat er es, weil er vor Erschöpfung nicht mehr anders konnte. Wenn ein flacher Gedanke in ihm aufkam, war es nur noch der an den befreienden Tod. Der Tod, der ihn zu seinen Lieben führen würde. Der Tod, der alles Leid beenden würde. Der Tod, der nicht schmerzen würde wie das Leben.
Peter sah seine Füße, wie sie den Schnee niederdrückten, er sah, wie sie kleine Äste aus dem Weg schoben anstatt darüber zu steigen, sah, wie sie dahinschlurften. Und dann sah er, wie seine Füße in blutigen Schnee stiegen. Peter blieb stehen. Blutiger Schnee. Blutiger Schnee und Fuchs spuren. Peters Puls wurde schneller, der Schleier in seinem Kopf begann sich zu lösen. Und dann sah er es ganz deutlich: Spuren eines verwundeten Fuchses im Schnee. Blutspuren im Schnee. Peter wollte laufen. Einige Meter trottete er dahin, den Spuren folgend. Doch dann besann er sich. Er zwang sich, langsam zu gehen, um sich zu schonen und seine Wunden nicht noch weiter aufbrechen zu lassen. Peter hatte wieder zu denken begonnen. Er hatte wieder Mut gefasst.
Nur wenige aufgeregte Atemzüge später war er am Ziel. Der verletzte Fuchs hatte ihn an den Rand einer Lichtung geführt. Peter stand vor einer Fichte, die vom Wind entwurzelt worden war. Der ausgerissene Wurzelballen hatte frische Erde freigegeben: blutverschmierte Tonerde. Der Fuchs hatte sich instinktiv in ihr gewälzt, um seine Wunde zu heilen. Und er hatte Peter viel von der Medizin übrig gelassen: am Wurzelballen haftete noch ausreichend unverbrauchte Tonerde. Peter schabte und schüttelte so viel Fuchserde von den Wurzeln, wie er in seinen Jackentaschen unterbringen konnte. Und als hätte die Fuchserde schon in seinen Taschen ihre heilende Kraft entfaltet, fühlte sich Peter mit einem Mal wieder besser. Benommen vor Glück, die Fuchserde gefunden zu haben, und benebelt durch den hohen Blutverlust, taumelte er zur Lichtung. Er sah Rauchfahnen aufsteigen. Und dann sah er einen Hof. Er lag nur zwei Steinwürfe entfernt. In die Richtung des Waldes war der Heuschober gebaut. Dahinter, dachte Peter, dahinter müsste das Wohnhaus liegen.
Peter überlegte, ob er noch zuwarten sollte, bis sich das Dunkelblau des Abendhimmels gänzlich nachtschwarz verfärbte. Doch er fürchtete, sich vor Kälte bald überhaupt nicht mehr rühren zu können, würde er noch länger hier draußen am Boden kauern.
Mit großen Schritten marschierte er los. Als er beim Tor des Heuschobers angelangt war, drehte er sich um und ging den Weg, den er gekommen war, wieder zurück.
Abermals beim Waldrand angekommen, ging er noch ein paar Schritte ins Gehölz, wandte sich dann abermals um und marschierte erneut auf den Schober zu, jeden Tritt exakt in seine zuvor hinterlassenen Fußabdrücke setzend. Würden die Bauersleute die Spuren im weichen Schnee bemerken, sollten sie glauben, dass sich zwar jemand dem Hof genähert hatte, kurz darauf aber wieder verschwunden sei. So würden sie halbwegs beruhigt sein und – was das Wichtigste war: Sie würden nicht nach einem Eindringling suchen.
Als Peter das Tor des Heuschobers aufschob und am Hof noch immer kein Mucks zu hören war, flüsterte er »Danke, Herrgott«. Die Bauern hatten offenbar keinen Hund.
Peter zog das schwere Tor behutsam hinter sich zu. Auf der einen Seite des Schobers war nur noch der untere Teil halbwegs voll mit Stroh. Auf der anderen Seite aber, über dem Kuhstall, war die Scheune bis unters Dach mit Heu gefüllt. Eine Holzleiter lehnte am Querbalken.
Peter stieg hinauf, verkroch sich im hintersten Winkel des Bodens, zog sich Jacke, Hemd und Hose aus und öffnete seine von Blut triefenden, behelfsmäßigen Verbände. Die Wunden bluteten noch immer. Peter riss sein Hemd in Streifen und zerrieb eine Faustvoll Fuchserde so fein er konnte zwischen seinen Händen. Dann bestreute er seine Wunden fingerdick so gut es ging mit der Erde und umschloss sie mit den Stoffstreifen. Ohne die Wirkung der Fuchserde abzuwarten, schichtete er ellenhoch Stroh auf seinen Körper, drehte sich zur Seite und schlief nur Momente später vor Erschöpfung ein.
Am nächsten Morgen erwachte Peter vom Poltern einer aufgeschlagenen Schuppentür. Die Bäuerin war gekommen, um die Kühe zu melken und auszumisten. Peter hielt instinktiv den Atem an. Und die Kühe begrüßten die Bäuerin indem sie muhten, die Köpfe nach ihr drehten und auf der Stroheinlage hin und
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