Fuchserde
her stiegen.
Als die Bäuerin ihre Arbeit beendet hatte und mit zwei Kübeln dampfend warmer Milch den Stall verließ, befreite sich Peter von seiner dicken Decke aus Stroh. Mit ihm war auch sein Schmerz erwacht. Vorsichtig löste Peter die blutroten Stofffetzen um seine Schussverletzungen. Er sah auf seinen Oberarm. Dann drehte er sich zur Seite, um nach der Verletzung auf der Rückseite seines Oberschenkels zu sehen. »Scheiße«, sagte Peter leise. Beide Wunden hatten die Fuchserde verweigert. An seinem Arm sah Peter den Muskel blau hervorschimmern. Und auch am Oberschenkel war die Wunde noch offen und feucht. Mit schmerzverzerrtem Gesicht wischte Peter die Fuchserde von seinen Wunden und reinigte sie danach mit Spucke. Anschließend zerrieb er erneut eine Faustvoll Erde und ließ sie auf die Wunde rieseln. Diesmal band er keine Stoffstreifen über die Verletzungen. Die Erde sollte bei ihrer heilenden Kraft durch frische Luft unterstützt werden. Peter drehte sich so zur Seite, dass keine der Wunden mit Stroh in Berührung kam. Dann versuchte er, noch einmal einzuschlafen.
Peter träumte von seinen Eltern. Er träumte davon, was er vor Jahren mit ihnen erlebt hatte: Einer der Löwen hatte seinen Vater mit der Pranke am Arm erwischt und Mutter bestreute die Wunde danach mit Fuchserde, von der sie stets einen kleinen Jutesack voll im Wohnwagen aufbewahrte. Nachdem sie Vaters Wunde vollständig mit Erde bedeckt hatte, hielt sie ihre Hand über die Verletzung. Peter träumte die Worte, die sie damals sprach, sprach, als sei sie nicht von dieser Welt: »Ich bin deine Sonne. Der Bauch der Mutter und meine Hand, der Bauch der Mutter und meine Hand werden dich heilen, der Bauch und meine Hand. Denn ich bin deine Sonne.« Das letzte Bild, das Peter sah, bevor er erwachte, war das Gesicht seiner Mutter. Sie lächelte. Sie lächelte engelsgleich und voller Liebe.
Peter besah seine Verletzungen. Er atmete auf. Dieses Mal hatte die Fuchserde die Wunden gesäubert. Es war, als hätte sie das Schlechte herausgezogen und in sich aufgenommen. Peter wusch die Wunde mit Spucke ab und streute frische Erde darauf. Danach hielt er seine Hand dicht zuerst über die eine, dann über die andere Wunde. Dabei flüsterte er: »Mutter, du bist meine Sonne. Der Bauch der Mutter und deine Hand, der Bauch der Mutter und deine Hand werden mich heilen. Der Bauch und deine Hand. Denn du bist meine Sonne.«
Den ganzen Tag über dämmerte Peter dahin. Wenn er nicht schlief, dachte er an seine Lieben, die zurück zu Gott, zurück zum Ursprung gegangen waren und die wieder kommen würden als Regen, als Wind, als Pflanze, Tier oder Mensch, die wieder kommen würden als Teil des Göttlichen, als Teil des Kosmos, der alles ist und nichts. Ihr Tod war nur ein kurzer Zwischenschritt gewesen im göttlichen Kreislauf, dem unendlichen Weg. Das machte Peter ruhig, obgleich es weh tat im Herzen.
Peter dachte auch an Maria, seine Verlobte. Er hatte ihr versprochen, zu ihr ins Waldviertel zu kommen, sobald die Sonne stärker sein würde als der Schnee. Der Gedanke an sie und ihre in der Ferne wartende Liebe machte ihn unruhig, obgleich es gut tat im Herzen.
Gegen Abend wurden Peters Durst und Hunger unerträglich. Noch musste Zeit sein, bevor die Bäuerin vor der Finsternis wieder kommen würde, um nach den Kühen zu sehen, dachte Peter. Also zog er sich an und kletterte die Leiter hinunter. Wie selbstverständlich ging er in den Stall und redete mit sanfter Stimme zu den Kühen, so wie er es von der Bäuerin gehört hatte. Peter wollte, dass die Tiere ruhig blieben und die Bauersleute nicht etwa durch aufgeregtes Muhen aufschreckten. Die Kühe reagierten überraschend gelassen auf Peters Anwesenheit. Einige stiegen zwar hin und her und rissen ein wenig an ihren Stricken, aber im Großen und Ganzen blieben sie auch noch ruhig, als sich Peter den Metalleimer schnappte, sich den Melkschemel unter den Hinten schob und begann, jener Kuh, die am sanftesten wirkte, rhythmisch die Zitzen ihres Euters zusammenzudrücken.
Schließlich melkte Peter alle fünf Kühe, dafür jede nur kurz. Freilich hätte er sich auch an nur einer Kuh satt trinken können. Aber hätte er eines der Euter gänzlich geleert, wäre die Bäuerin womöglich misstrauisch geworden. Peter genoss die fette, körperwarme Milch direkt aus dem Kübel. Als er sich den Bauch bis obenhin angefüllt hatte, schwemmte er den Milchkübel mit etwas Wasser aus dem im Eck stehenden Eimer aus und
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