Fuchserde
Marias Augen gar nicht traurig waren. In diesem Moment wandte sie ihren Kopf. Ich folgte ihrem Blick, und da stand er. Peter war gekommen.
Wir fielen einander zu dritt in die Arme. Und soll ich dir etwas beichten, mein kleiner Fuchs: Jetzt heulten wir alle drei. Und ich sicher keine Träne weniger als meine Tochter. Wir hielten uns fest und weinten. Auch Frida und Heinzi kamen dazu. So standen wir da, vor unserem Versteck, mitten im Wald, weinend vor Glück und vor Erleichterung. Jetzt waren wir bereit. Jetzt konnte der Frühling beginnen. Und erst jetzt, erst jetzt war die Sonne stärker als der Schnee.
Wir stärkten und wärmten Peter, der dürr und ausgekühlt war wie ein hohler, kranker Baum. Als unsere Herzen sich beruhigt hatten, erzählte uns Peter am Funk, was geschehen war. Seine ganze Sippschaft war in Innsbruck in ein Lager der Nazis gesteckt worden. Wenn sie fragten, was sie denn verbrochen hätten, wurden sie nur verächtlich gemustert. Das war Antwort genug. Von früh bis spät wurden sie schikaniert, mussten gemeinsam mit anderen Gefangenen Schotter aus dem Fluss holen, bei jedem Wetter und bei Eiseskälte. Zu Essen bekamen sie viel zu wenig, dafür Schläge und Qual. Peter erzählte, dass sie nicht wie Tiere behandelt wurden, denn Tiere sind wertvoll, und sei es nur für die Arbeit. Sie aber wurden so hart gehalten, dass sie mehr und mehr den Eindruck bekamen, ihr Aufenthalt habe nur einen Zweck: ihren verzweifelten Tod. Der Lagerleiter und die Wachen hatten sie gequält, wann immer es ihnen einfiel, und so sei es gekommen, wie Peters Urgroßmutter es in ihrer Glaskugel vorausgesehen habe: Einer nach dem anderen gab sein Leben. Die Nazis verschonten weder die Alten noch die Jungen, weder die Frauen noch die Kranken. Peter berichtete, dass die Nazis alle, wirklich alle, die ganze Sippe, auf dem Gewissen hatten: Peters Vater Luca, den sie schon beim Abholen niedergeschossen hatten, die Urgroßmutter, die sie zu Boden gestoßen und erschossen hatten, seinen Schwager Fabio, der abgeschlachtet wurde, als er seinen Sohn Giorgio vor den brutalen Aufsehern schützen wollte, den kleinen Giorgio selbst, der erst ins Lagerspital gebracht worden war, als es längst zu spät war, Barbara, die mit Eiswasser bespritzt worden war und einen qualvollen Foltertod starb und auch Peters Mutter Anna, die so glücklich war, weil sie, am vorbeifahrenden Lkw stehend, noch einmal ihren Sohn Peter sehen durfte, bevor sie mit bloßen Händen Blindgänger ausgraben musste. »Sie hat keine Furcht gehabt«, erzählte uns Peter damals und sah dabei mit einem sonderbar weichen Blick ins Feuer. Weißt du warum, mein kleiner, schlauer Fuchs? Weißt du, warum Peters Mutter nicht die geringste Angst hatte, obwohl sie wusste, dass der Tod auf sie wartete? Anna war deshalb furchtlos, weil sie mit sich bereits im Reinen war, weil sie sich in der einsamen Gefangenschaft des gefrorenen und engen Bunkers vorbereitet hatte auf ihre Reise und – und weil ihr Sohn Peter sie im Geiste begleitet hatte auf ihrem letzen Weg. Als sie an ihm und den anderen am Fluss schuftenden Männern vorbeigefahren wurde, winkte sie ihm zu. Sie winkte und lachte ihm zu mit ihrer ganzen Seele. Doch Peter entging nicht, dass die Finger ihrer Hand gekrümmt waren. Sie waren gekrümmt, weil Anna den Griff der Sonne formte und ihr Daumen bis zur äußersten Anspannung zwischen Mittel- und Ringfinger eingeklemmt war. Und so wusste Peter, was zu tun war. Sein Geist begleitete seine Mutter zum letzten Mal auf einer gefährlichen Reise. »Sie hat den Griff gemacht und wir haben unsere Gedanken verwoben, so wie du es uns damals bei unserem Zusammentreffen gelehrt hast, Lois«, sagte Peter zu mir und fuhr fort: »Wir haben es getan, wie damals, als sie in die Manege stieg und ihren Kopf in den Rachen des Löwen hielt, ohne Angst und mit sicherem Herzen. So haben wir es auch gehalten, als sie zu den Bomben gefahren wurde. Und deshalb«, sagte Peter zu uns und zu sich, und sah wieder ins Feuer, »deshalb weiß ich, dass meine Mama keine Angst hatte, als sie diese Welt verließ.«
Als Peter seine Erzählung beendet hatte, bemerkte ich, dass meine Frida Tränen versteckte. Mit gebeugtem Rücken hockte sie vorm Funk und sah zu Boden, sodass wir ihr Gesicht nicht sehen konnten. Wie beiläufig nahm sie immer wieder einen Zipfel ihres langen, bunten Rockes und führte ihn zu ihren Augen. Ich legte kurz meine Hand auf ihre Schulter, und dann nahm ich ihr etwas von ihrem
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