Fuchserde
»harmlos« war, findet sich das jenische Wort »pegern«, was neben »tot sein« auch »tot machen« bedeutet. Mit dieser verschlüsselten Botschaft in jenischer Sprache teilte die Frau ihrer Schwester mit, dass in Auschwitz Menschen umgebracht wurden.
Ein Arbeitsbericht der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« des damaligen deutschen Reichsgesundheitsamtes wiederum belegt, dass »wissenschaftliche und praktische«
Untersuchungen nicht nur hei der »jüdischen Bevölkerungsgruppe« und bei Sinti und Roma durchgeführt wurden, die als »Zigeunerstämme« aufschienen, sondern auch an »nicht sesshaften Bevölkerungsgruppen der jenischen Asozialen und Kriminellen«. Diese »Untersuchungen« waren Grundlage für »staatliche Maßnahmen der Erb- und Rassenpflege«.
* * *
Die Sonne war damals schon etliche Tage stärker gewesen als der Schnee. Von Peter aber fehlte noch immer jede Spur. Überall hatte es getaut, von den Bäumen waren längst alle Schneepatzen mit einem satten Plumpsen zu Boden gefallen, und an den Feldrainen lief das Schmelzwasser in kleinen Rinnsalen entlang. Die Vögel in den Wipfeln über uns pfiffen jeden Morgen vergnügter, Schneeglöckchen und Krokusse steckten ihre Köpfe aus der Erde und überall küsste der laue Wind frisches Leben wach. Allein unsere Tochter, unsere Maria, wurde von Tag zu Tag stiller. Sie sprach nur noch, wenn wir ihr mit unseren gut gemeinten, aber hilflosen Aufmunterungen und Fragen keine andere Wahl ließen. Mit jedem Tag, den die Sonne an Kraft gewann, von Marias Verlobtem aber trotzdem weit und breit nichts zu sehen war, wurde unsere Tochter niedergeschlagener und verzweifelter. Wenn Frida versuchte, sie zu trösten, sprang Maria auf, lief davon und kam wenig später mit einer Faust voll Schnee zurück, den sie in irgendeiner Felsspalte oder einem Graben gefunden haben musste. Sie hockte sich vor uns auf ihre Fersen, öffnete ihre Hand und hielt uns mit gestrecktem Arm ein armseliges Klümpchen Schnee vor unsere Nasen. »Was ist das«, sagte sie schroff, und wir antworteten »Schnee, Maria. Ja, es ist Schnee.«
»Na also«, sagte Maria trotzig und warf das nasse Etwas, das die Liebe zu unserer Tochter Schnee genannt hatte, zu Boden. »Noch«, sagte Maria dann in ruhigem Ton, »noch hat die Sonne den Schnee nicht besiegt.«
Dann zogen weitere und weitere warme Tage ins Land. Unwiderruflich war die Zeit gekommen, in der das Leben neue Kraft schöpfte, in der sich alle Wesen nach der immer stärker werdenden Sonne streckten und die Natur sich entschlossen hatte, erneut aufzublühen. Damals schien mir, mein kleiner Fuchs, als gäbe es rundherum nur ein frei lebendes Wesen, das an Kraft einbüßte anstatt neue zu gewinnen und das drauf und dran war, jegliche Lebensfreude zu verlieren: unsere Maria. Wir machten uns große Sorgen um unsere Tochter, denn wir kannten sie, und so wussten wir zwar um ihre Stärke, aber auch um ihre Verletzbarkeit. Wir wussten, dass sie ihrem Leid nicht mehr lange würde standhalten können.
In dieser Zeit erwachte ich an einem frühen Morgen in unserer Restlinggrube. Draußen im Wald schwebte noch der Dunst über dem nassen Boden, aber so wie schon in den vergangenen Tagen würde die Sonne ihn bald vertrieben haben, um schließlich ganz seinen Platz einzunehmen. Ich rieb mir die Augen und sah um mich. Die Glut unseres Nachtfeuers gloste noch schwach. Rechts neben mir schlief Frida, daneben unser Sohn Heinzi, doch zu meiner Linken, zu meiner Linken war der Schlafplatz leer. Maria, die Langschläferin Maria, hatte, zum ersten Mal seit wir uns hier versteckt hielten, allein und ohne es anzukündigen, unseren Geheimplatz verlassen. Stoßweise pumpte der Schrecken Blut durch mein Herz. Ich sprang auf und schlug mir dabei den Kopf an der Steindecke an. Benommen taumelte ich ins Freie – und da war sie. Feengleich und nur wenige Schritte entfernt von mir sah ich sie. Ein erster vager Sonnenstrahl glitt durch den Morgennebel und berührte Marias Haar. Sie stand völlig reglos vor mir, mit hängenden Armen, und sie weinte. Ihre Tränen liefen über ihr hübsches Gesicht, verfingen sich in ihrem offenen braunen Haar und versickerten in ihrem roten Umhang. Ich hielt mir meinen noch immer schmerzenden Kopf. Vor mir stand meine zierliche Tochter, von der ich niemals geahnt hätte, dass so schrecklich viele Tränen in ihrem Herzen Platz hatten. Als ich ansetzte, eine meiner dummen, tröstlichen Fragen zu stellen, bemerkte ich, dass
Weitere Kostenlose Bücher