Fuchsjagd
Er ist nicht hinterhältig.« Oder war es jedenfalls nie, dachte er.
»Nein«, stimmte sie zu. »Sonst hätte er sich und seinen Sohn ganz anders beschrieben.« Sie hielt inne, um sich ihre Eindrücke von dem Briefwechsel zu vergegenwärtigen. »Diese kleine Fabel, die er mir geschickt hat, war sehr merkwürdig. Sie besagte praktisch, dass Leo seine Mutter aus Wut darüber getötet hat, dass sie ihn nicht weiterfinanzieren wollte. Stimmt das?«
»Sie meinen, dass Leo Ailsa getötet hat?«
»Ja.«
Wieder schüttelte Mark den Kopf. »Das kann gar nicht sein. Leo war in der Nacht in London. Sein Alibi war absolut in Ordnung. Die Polizei hat es gründlich überprüft.«
»Aber James akzeptiert es nicht?«
»Doch, damals hat er es akzeptiert«, erwiderte Mark mit Unbehagen, »jedenfalls hatte ich diesen Eindruck.« Er schwieg einen Moment. »Könnte es nicht sein, dass Sie zu viel in diese Fabel hineininterpretieren, Captain Smith? Wenn ich mich recht erinnere, entschuldigte sich James in seinem zweiten Brief wegen seiner pathetischen Ausdrucksweise. Die Fabel war doch gewiss symbolisch zu nehmen und nicht wörtlich. Angenommen, er hätte ›wütend anbrüllen‹ statt ›fressen‹ geschrieben. Das wäre zwar weniger drastisch gewesen, der Wahrheit aber weit näher gekommen. Leo hat seine Mutter oft angebrüllt, aber er hat sie nicht getötet. Niemand hat sie getötet. Ihr Herz ist stehen geblieben.«
Nancy nickte zerstreut, als hörte sie nur mit halbem Ohr zu. »Hat Ailsa es denn abgelehnt, ihm weiter Geld zu geben?«
»Insofern, als sie Anfang des Jahres ein neues Testament machte, mit dem ihre beiden Kinder vom Erbe ausgeschlossen wurden. Wenn Sie mich fragen, war genau das ein Grund für Leo, sie
nicht
zu töten. Er und seine Schwester wurden von der Änderung unterrichtet, sie wussten also, dass ihr Tod ihnen nichts einbringen würde – oder jedenfalls nicht die halbe Million, auf die sie spekulierten. Sie hatten eine größere Chance auf das Geld, wenn ihre Mutter am Leben blieb.«
Nachdenklich blickte sie zum Meer hinaus. »Indem sie sich ›besserten‹, wie James in seiner Fabel schreibt?«
»Ja.« Er zog die Hände aus den Taschen und blies in sie hinein. »Er hat Ihnen bereits berichtet, dass sie ihre Eltern enttäuscht haben, ich verrate Ihnen also nichts Neues, wenn ich das betone. Ailsa suchte immer nach Druckmitteln, um ihre Kinder noch zur Umkehr zu bewegen, und die Testamentsänderung war auch so ein Versuch, durch Druck Besserung zu erreichen.«
»Und da wären wir bei dem plötzlichen Entschluss, nach mir zu suchen«, warf Nancy ohne Bitterkeit ein. »Ich war auch ein Druckmittel.«
»Also, ganz so kaltschnäuzig war es nicht«, entgegnete Mark in entschuldigendem Ton. »Es ging eher darum, die nächste Generation zu finden. Leo und Elizabeth haben beide keine Kinder. Damit sind Sie die einzige genetische Verbindung zur Zukunft.«
Sie drehte den Kopf, um ihn anzusehen. »Bis Sie aufkreuzten, habe ich nie über meine Gene nachgedacht«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln. »Jetzt machen sie mir Angst. Denken die Lockyer-Fox auch mal an andere und nicht nur an sich selbst? Sind Egoismus und Habgier mein ganzes Erbe?«
Mark dachte an die Tonbänder in der Bibliothek. Um wie viel schlechter würde sie sich fühlen, wenn sie je hörte, was sie enthielten. »Sie müssen mit James sprechen«, sagte er. »Ich bin nur der Anwalt, der Anweisungen folgt. Aber falls es Sie interessiert, ich würde Ihre Großeltern nicht als egoistisch bezeichnen. Meiner Meinung nach war es nicht recht von James, Ihnen zu schreiben – und das habe ich ihm auch gesagt. Offensichtlich war er in dem Moment, als er es tat, tief depressiv. Das ist keine Entschuldigung, aber es erklärt vielleicht seine Verwirrung.«
Sie sah ihn einen Moment schweigend an. »Seiner Fabel zufolge wird Leo auch ihn töten, wenn er ihm das Geld vorenthält. Ist
das
zutreffend?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete er aufrichtig. »Ich habe diese verdammte Geschichte gestern das erste Mal gelesen und habe keinen Schimmer, worum es dabei geht. Es ist im Moment nicht leicht, mit James zu reden, und ich bin daher überhaupt nicht sicher, was in ihm vorgeht.«
Sie antwortete nicht gleich, schien vielmehr damit beschäftigt, verschiedene Gedanken zu prüfen, die ihr durch den Kopf gingen, um zu sehen, ob sie der Erwähnung wert waren. »Mal rein theoretisch«, murmelte sie. »Nehmen wir an, James hat genau das geschrieben, wovon er
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