Füge Dich! (German Edition)
sich ihm mutig in den Weg gestellt, die Prügel, die für ihn, seinen Bruder oder die Schwester bestimmt waren, selbst eingesteckt.
Mike versuchte, sich an seine große Schwester zu erinnern, doch es gab nur ein vages Gefühl ihrer Existenz in ihm. Sein Bruder hatte Mike von ihr erzählt. Betty war vierzehn Jahre älter als er und hatte das Elternhaus schon früh verlassen. Die Jungen hatten sie nie wieder gesehen.
An seinen Bruder konnte er sich hingegen sehr gut erinnern. Mit ihm war er oft durch den nahe gelegenen Wald gestreift. Tom hatte ihm das Jagen mit der Steinschleuder beigebracht, wie man einen Vogel zubereitete und ein Feuer machte, wie man sich ohne Hilfsmittel im Wald ein Nachtlager schuf ... Es war eine schöne Zeit gewesen, trotz allem.
Auch Tom hatte es bald nicht mehr zu Hause ausgehalten und war mit fünfzehn abgehauen. Der Abschied war furchtbar gewesen. Mike hatte sich an ihn gekrallt, er wollte, dass Tom ihn mitnahm und nicht allein zurückließ, doch sein Bruder war standhaft geblieben.
«Ich kann dich nicht mitnehmen, ich weiß ja nicht mal, wie ich mich selbst durchschlagen soll. Du musst noch ein paar Jahre durchhalten, dann mach es wie ich. Du schaffst das!»
Heute konnte Mike die Entscheidung seines Bruders verstehen, mit seinen sieben Jahren wäre er ihm damals ein viel zu großer Klotz am Bein gewesen.
Tom hatte ihn anfangs noch ein paar Mal vor der Schule abgefangen und ihm Mut zugesprochen, doch schon bald war der Kontakt abgebrochen.
Er war allein bei seinen Eltern zurück geblieben.
An die Zeit danach konnte er sich seltsamerweise nur verschwommen erinnern. Wann hatte er sein Elternhaus verlassen? Was hatte diese Kutte zu bedeuten? Soweit er sich erinnern konnte, war die Familie nie besonders religiös gewesen. Kirchgänge hatte es nicht gegeben, aber irgendetwas musste damals geschehen sein, etwas, das mit diesem Gewand zu tun hatte.
Die letzten Jahre hatte Mike sich irgendwie durchgeschlagen.
Er liebte es, die Sommermonate zum größten Teil im Wald zu verbringen. Hier fühlte er sich frei. Niemand war da, vor dem er sich in Acht nehmen musste. Keiner machte ihm seinen Schlafplatz streitig oder versuchte, ihn zu bestehlen. Was er zum Leben brauchte, bot ihm zum großen Teil die Natur und für den Rest bediente er sich an den Hand- und Brieftaschen allzu leichtfertiger Zeitgenossen.
Der Winter war eine öde, harte Zeit. Um einen warmen Platz musste er oft genug kämpfen, sie waren nicht gerade reichlich gesät. Mike bevorzugte leerstehende Häuser, doch da war er nicht der Einzige. Mit seinen achtzehn Jahren, seinem durchtrainierten Körper und, so sagte man ihm nach, seinem hübschen Gesicht war er eine attraktive Erscheinung, was ihm mitunter zum Verhängnis werden konnte. Er musste nicht nur auf seine Habe achtgeben. In schlechten Zeiten war sein Körper allerdings sein wichtigstes Kapital.
Nach seinem Ausraster hatte Mike die Frau verfolgt und das Gespräch mit dem Hippiepärchen belauscht. Die Entscheidung, ihnen zu folgen, hatte er spontan getroffen. Diese Frau war das Verbindungsglied zu den Geschehnissen in seiner Vergangenheit. Er musste sie zur Rede stellen.
Der Tag, an dem Ricky wieder einmal zu einer längeren Kanutour mit einer Touristengruppe aufbrach, versprach schon früh, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Alina begleitete sein Kanu noch eine Weile, bis Ricky sie lachend ermahnte, nun sei sie weit genug hinausgeschwommen. Prustend hielt sie sich an der Bootswand fest und forderte einen leidenschaftlichen Abschiedskuss ein. Erst danach gab sie sich geschlagen und drehte ab, um auf der Badeinsel einem ausgiebigen Sonnenbad zu frönen.
Das Leben war schön. Alina konnte sich gar nicht mehr vorstellen, in der Stadt zu wohnen. Diese Freiheit, die Schönheit der Natur ... all das bereicherte ihr Leben in einem Ausmaß, das ihr erst jetzt so richtig bewusst wurde.
Die Sommernächte hatten der Dunkelheit bereits wieder Zutritt gewährt und von Nacht zu Nacht dehnte sich die Finsternis ein Stückchen weiter aus.
Wie Schleier aus zartem Tüll das aparte Gesicht einer schönen Frau verhüllten, so bedeckten erste Nebelschwaden den abendlichen See und deuteten den baldigen Einzug des Herbstes an.
So sehr Alina die Freuden des Sommers auch genoss, so sehr freute sie sich doch genauso begeistert auf das Farbenspiel des bald beginnenden Altweibersommers, die rauen Herbststürme, wenn sie die seichten Wellen des zur Sommerzeit meist friedlichen Gewässers zu
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