Führe mich nicht in Versuchung
Brief, zu schreiben.
Gewöhnlich berichtete LadyLou Damien in ihren Briefen genau über alles, was in Jillians Leben vor sich ging.
Jillian hatte sich das Gesicht mit Wasserfarben angemalt.
Jillian hatte sich ohne erkennbaren Grund zehn Zentimeter ihres Zopfes abgeschnitten.
Jillian war beim Buchstaben T im Alphabet angekommen ...
Max beunruhigte sein derzeitiges Interesse an Jillians Streichen ein wenig. Aber mit der Zeit und über die Entfernung hinweg begann es schließlich nachzulassen. Und doch erwischte er sich immer wieder einmal, wie seine Gedanken bei diesem kleinen Mädchen verweilten. Obwohl er sich dagegen wehrte, lag er, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, auf seinem Bett im Internat und beobachtete Damien erwartungsvoll dabei, wie der seine Post öffnete.
»Offenbar hat Jillian jetzt das Alphabet gemeistert. Wir haben Briefe von ihr bekommen«, sagte Damien eines Tages und warf Max ein gefaltetes Stück Papier zu.
Max setzte sich schnell auf und fing den Brief. Er starrte ungläubig auf seinen Namen, der in ungelenken Buchstaben und verwischter Tinte auf der Vorderseite zu lesen war. Großer Gott, sie hatte wirklich Wort gehalten! Er konnte sich allerdings nicht vorstellen, was ein siebenjähriges Mädchen in einem Brief zu sagen hatte. Er konnte einfach nicht glauben, dass sie ihm geschrieben hatte.
Er drehte den Brief um und musste unwillkürlich lächeln. Jillian hatte ihn ganz offenbar selbst versiegelt. Er hatte noch nie einen so großen Wachshaufen auf einem Brief gesehen. Nachdem er das Siegel mit einer entschlossenen Bewegung aufgebrochen hatte, las er:
Lieber Marquis Max,
Die Katze hat Junge. Mein Haar wächst. Ich vermisse dich. Deine Freundin Jillian
Lady Jillian
Damien kicherte, als er seinen eigenen las. »Kurz aber herzlich.«
»Ja«, stimmte Max ihm zu.
»LadyLou schreibt, dass Jillian einen ganzen Topf Tinte und beinahe jedes Stück Schreibpapier im Haus dafür verwendet hat«, sagte Damien.
Max las die Worte, die Jillian so mühevoll geschrieben hatte noch einmal durch und steckte den Brief dann in eine Schachtel unter seinem Bett, wo er bereits ihren Zahn aufbewahrte.
Am Ende des Schuljahres erfuhr Max von Damien, ihre Väter sich ein Schiff gekauft hatten und den Sommer auf hoher See verbringen würden. Sie beabsichtigten, zurückzukehren, bevor Max und Damien im Herbst nach Oxford gingen, um ihr Studium aufzunehmen. Die Männer der Forbes und Hastings waren alle in Oxford gewesen. Obwohl Max seinen Vater seit acht Monaten nicht mehr gesehen hatte, wäre er am liebsten in schallendes Gelächter darüber ausgebrochen, dass der Herzog einen neuen Zeitvertreib gefunden hatte. So konnte er immerhin den Sommer nach Belieben in Westbrook Court verbringen. Es machte ihm nichts aus, dass er von Damien erfahren musste, was sein Vater plante. Das war nichts Neues für ihn.
Die Sommermonate vergingen wie im Flug, und Max genoss zum ersten Mal in seinem Leben wirklich den von Routine geprägten Tagesablauf in Westbrook Court und die Wärme, die ihm Damiens Familie entgegenbrachte. Obwohl er schon bei zahllosen Mahlzeiten zugegen gewesen war, hatte er sich niemals erlaubt, in das Lachen miteinzustimmen oder an der Unterhaltung teilzunehmen, da auch Jillian immer dabei gewesen war. Früher hatte er sich oft gefragt, warum sie nicht ins Kinderzimmer verbannt wurde, um dort zu essen, wie es mit anderen Kindern in ihrem Alter gemacht wurde. Nun aber genoss er ihre übersprudelnde Fröhlichkeit, mit der sie ihrer Tante berichtete, wie ihr Tag verlaufen war.
Max und Damien hatten sie zum Fischen mitgenommen.
Max und Damien hatten ihr beigebracht, im Teich zu schwimmen.
Max und Damien hatten sie beim Schaukeln angeschubst ...
Der Herzog von Westbrook kehrte zwei Wochen vor Maxens und Damiens Abreise nach Oxford zurück. Max hatte keine Ahnung, wo sein eigener Vater war und wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich danach zu erkundigen.
Eine Woche später aber kehrte auch der Herzog von Bassett zurück und ließ Max zu sich nach Bassett House zitieren. Max fand sich pflichtbewusst zu der längst überfälligen Inspektion ein. Als er durch das hintere Tor ritt, erblickte er einen Karren, von dem lange Kisten vor dem Eingang zu den Quartieren der Bediensteten abgeladen wurden.
Noch mehr Schätze.
Er stieg von seinem Gaul, warf die Zügel einem der Stallburschen zu und machte sich auf den Weg ins Arbeitszimmer seines Vaters. Der Herzog saß hinter einem riesigen
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