Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fünf alte Damen

Fünf alte Damen

Titel: Fünf alte Damen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Gruhl
Vom Netzwerk:
dazu.
    «Wann sind Sie geboren?»
    «Im Juni. Am sechsten Juni
achtundachtzig.»
    «Da haben Sie ja bald Geburtstag.»
    «Ja, es ist nicht mehr lange hin. Ach
Gott, früher kamen wir immer alle zusammen, wenn eines Geburtstag hatte— »
    «Eine schöne Sitte. Was für eine
Geborene sind Sie, Frau Lindemann?»
    «Geb— ach— Lindemann— ich— war nicht
verheiratet— mein Verlobter ist 1918 gefallen, und seitdem— »
    «Ach», sagte ich, obwohl ich auch das
gewußt hatte. «Sieh an. Ich bin auch nicht verheiratet. Endlich ein
Bundesgenosse. Ihre Kasse?»
    «Rentner. Ich bin Rentnerin.»
    Dorothea war die ärmste von allen
fünfen. Einer mußte es sein. Und sie wohnte in einer armen Gegend. Burggasse
24.
    «Mal schwer krank gewesen, Frau
Lindemann? Unfälle, Operationen? Irgendwelche Beschwerden! 1 »
    Sie schüttelte ihren alten Kopf.
    «Als Kind, da hab ich Keuchhusten
gehabt, und dann wollten sie mir die Mandeln rausnehmen, aber es war nicht
nötig— nein, nein, ich war immer gesund.»
    «Da hab ich schon mehr gehabt als Sie»,
sagte ich. «Machen Sie sich bitte ‘n bißchen frei, Frau Lindemann. Sehen wir mal,
ob alles in Ordnung ist.»
    Sie fingerte aufgeregt an ihrem Hut
herum und zog die Nadel heraus. Ein furchterregendes Ding. Sie war etwa
fünfzehn Zentimeter lang, mit einer drohenden Spitze, und der Schaft
verbreiterte sich wie ein Stilett aus dem alten Venedig. Daß der Hut das
aushielt!
    Ich war schnell fertig mit Dorothea.
    «An Ihnen kann ich nichts verdienen»,
sagte ich so nett, wie ich konnte.
    «Wirklich, Herr Doktor?»
    «Wirklich. Machen Sie sich keine
Sorgen. Nichts zu finden.»
    «Ach, da bin ich ja froh, Herr Doktor.»
    «Ich geb Ihnen ein paar schöne Bonbons,
mit allen Vitaminen auf einmal», sagte ich und griff nach meinem Rezeptblock.
«Im übrigen leben Sie genauso weiter wie bisher. Nur nicht zu dick werden!»
    «Nein, nein, ich nehm mich mit dem
Essen schon in acht— aber Kaffee darf ich doch trinken?»
    «Dürfen Sie. Nur nicht solchen, der vor
Kraft nicht aus der Kanne geht.»
    Sie nickte strahlend, öffnete dann
hastig ihre Tasche. «Hier— mein Schein— , den hätte ich ganz vergessen.»
    «Danke schön, Frau Lindemann. Und da
haben Sie Ihr Rezept. Jeden Tag eine, genügt vollkommen. Und wenn irgend etwas
ist, kommen Sie, und besuchen Sie uns.»
    Sie strahlte. «Vielen Dank, Herr
Doktor. Recht vielen Dank— » sie rutschte wieder auf der Kante herum und
zögerte.
    «Noch Sorgen, Frau Lindemann?»
    «Entschuldigen Sie, wenn ich noch mal
frage— mit dem— mit dem Herzen habe ich nichts, nein?»
    «Keine Spur von nichts», erwiderte ich.
«Geht wie ein Uhrwerk. Und Ihr Blutdruck ist prima.»
    Sie sah mich eine Weile an, bevor sie
weitersprach.
    «Es ist nur, weil— die Jenny und die
Bertha— die sind doch wegen— ich meine, die hatten es doch mit dem Herzen— die
Agnes hat es mir nämlich erzählt— auf dem Friedhof— »
    «Die lebten noch, wenn sie Ihr Herz
hätten», antwortete ich.
    Ein paar Sekunden vergingen. Dann wurde
ihr rundes Gesicht wieder fröhlich. Sie stand auf, und ich tat dasselbe.
    «Recht schönen Dank, Herr Doktor.
Vielen, vielen Dank. Nun will ich Sie aber nicht mehr aufhalten, Sie müssen ja
essen und wollen sicher— »
    «Sie haben mich nicht aufgehalten. Im
Gegenteil. Kommen Sie gut heim.»
    «Auf Wiedersehen», rief sie von der Tür
her. «Und schönen Sonntag noch, Herr Doktor.»
    Ich hörte sie draußen mit Mechthild
reden. Dann klappte die Tür. Ich setzte mich wieder und betrachtete die Karte
mit den wenigen Eintragungen.
    Kerngesund.
    Wenn es einen Mörder gab, würde er sich
etwas Neues einfallen lassen müssen bei Dorothea Lindemann.
    Mechthild kam herein.
    «Die ist eigentlich ganz nett, die Frau
Lindemann. Ich hatte gedacht— »
    «Ich gebe Ihnen mal ein Buch», sagte
ich. «Über die Psychologie des ersten Eindrucks. Da werden Sie sehen, wie
grandios man danebenhauen kann.»
    «Hat sie was?»
    «Alles okay.»
     
     
    Als Dorothea Lindemann wiederkam, war
sie nicht mehr okay.
    Mechthild sagte es mir zwischen zwei
Leuten. Es war zehn Tage nach dem Besuch bei uns.
    «Die Frau Lindemann ist draußen. Aber
die hat was heute.»
    «Was?»
    «Ich weiß nicht. Sieht aus, als ob sie
Fieber hätte.»
    Mit einem Schlag waren alle bösen
Gespenster wieder da. Fieber.
    Vor zehn Tagen kein Befund und heute
Fieber. Mit Fieber hatte es angefangen bei Alma Wiebach.
    Mechthilds Stimme drang zu mir.
    «Nimmt Sie das so mit?»
    «Das nimmt mich so mit.

Weitere Kostenlose Bücher