Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fünf alte Damen

Fünf alte Damen

Titel: Fünf alte Damen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Gruhl
Vom Netzwerk:
eisige Pupillen hinter der Brille. Und ein Gesicht, das ich noch
nie gesehen hatte. Der Neffe, den niemand kannte, der vielleicht um uns war und
aus dem Schatten jede unserer Bewegungen verfolgte.
    Daniel saß wie vorher,
zusammengerutscht und träge. Nur seine Augen lebten. Meine Gedanken schienen
sich zu übertragen in sein Gehirn.
    «Einer ist es», sagte er. «Und sein Vorsprung
ist verflucht groß.»
    «Krompecher?»
    «Der hat nicht viel davon. Nur der
Neffe. Und der Rektor. Und die Mama.»
    «Und Mechthild», sagte ich.
    Daniel schwieg.
    «Dan— gestern kann sie es nicht gewesen
sein.»
    Seine Worte fielen langsam wie Tropfen:
    «Nein. Sie nicht. Woher weiß ich, ob es
nicht jemand anderes tut. Für sie.»
    Eine heiße Welle von Ärger überfiel
mich.
    «Woher weiß ich, daß du nicht dieser
Neffe bist?»
    «Richtig», sagte er leise. «Woher weißt
du das?»
    Ein paar Sekunden lang starrte ich ihn
an, über die Gläser hinweg, wie einen Fremden. Dann strich ich mit der Hand
über die Augen.
    «Es ist Blödsinn, alter Knochen. Wir
machen uns verrückt. Ich kenne dich. Und sie auch. Es ist Quatsch.»
    «Niemand kennt den anderen, Michel.»
    Ich wußte es. Und gleichzeitig wußte
ich, daß ich Mechthild liebte. Sie durfte es nicht sein.
    Wir blieben still, bis die Gläser leer
waren. Es war spät, und nichts rührte sich mehr im Haus. Sherlock hatte den
Sessel verlassen. Er lag in ganzer Länge auf dem Teppich und schlief fest.
    «Was tust du jetzt?» fragte ich.
    «Ich grabe in der Vergangenheit herum»,
antwortete Daniel. Er stand auf. «Vielleicht muß ich auch anderswo graben.»
    Ich nickte.
    «Und Agnes?»
    «Die lassen wir nicht mehr aus den
Augen», sagte er. «Niemanden lassen wir mehr aus den Augen.»
     
     
    Ich brachte meinen Wecker zur Ruhe und
dachte wieder an Daniels Worte. Es war eine der wenigen Nächte, in denen ich
schlecht geschlafen hatte. Die alten Damen waren nun auch mein Fall. Ich würde
die Stunden zählen bis zu seinem Ende.
    Ich trank Tee und aß wenig. Dann ging
ich hinüber. Mechthild öffnete die Tür zur Praxis. Mir wurde viel besser, als
ich ihr Gesicht sah.
    «Morgen, Erbin!»
    Sie lächelte nicht.
    «Sie sollten nicht so was sagen.»
    «Nicht böse sein», antwortete ich. «Mir
wäre lieber, es hätte dieses Geld nie gegeben.»
    Sie folgte mir ins Sprechzimmer. Ich
suchte die Karte von Dorothea heraus. Gerade erst angelegt. Schon wieder zu
Ende. Zwei Beratungen. Ein Besuch.
    Ich schrieb das Datum hin und malte langsam
das Kreuz dahinter. Meine Augen gingen zu Mechthild. Weiß und süß und mit
Bewegungen wie ein Engel. Warum, zum Teufel, konnte man nicht hineinsehen in
die Menschen?
    Sie drehte sich um.
    «Ich hab die Spritzen fertig. Können
wir?»
    «Wir können», sagte ich.
    Um elf klingelte das Telefon. Eine
Stimme, die ich gestern gehört hatte.
    Agnes Lansome.
    Sie sprach schnell, als wäre sie
gelaufen.
    «Herr Doktor— kann ich noch zu Ihnen
kommen?»
    «Natürlich», sagte ich. «Ist
irgendwas?»
    «Ach— nichts Besonderes— sicher nur die
Aufregung— ich glaube, das Herz— »
    Das Herz. Jennys Herz.
    «Kommen Sie gegen halb zwölf», sagte
ich. «Dann ist es leer, und Sie brauchen nicht zu warten.»
    «Vielen Dank, Herr Doktor. Recht vielen
Dank!»
    Während der nächsten halben Stunde
überlegte ich, ob ich Daniel anrufen sollte. Ich ließ es sein. Hatte Zeit bis
nach der Untersuchung.
    Agnes kam, zerbrechlich und
hoheitsvoll. Jetzt, wo ich die fünfhunderttausend Mark hinter ihr wußte, hatte
ich noch mehr Respekt. Sie sah besser aus als gestern, aber immer noch nicht
gut genug. Sie war blaß und schien wenig geschlafen zu haben. Wie ich.
    «Es tut mir so leid, Sie jetzt noch zu
belästigen— »
    «Ganz im Gegenteil», sagte ich. «Ich
muß Ihnen böse sein, weil Sie mich so wenig belästigt haben.»
    Sie konnte verlegen lächeln wie ein
Schulmädchen.
    «Ach, es ging ja immer gut, wirklich—
aber jetzt— »
    «Ich weiß. Was fehlt denn?»
    «Es ist sicher nur Einbildung— aber ich
habe manchmal solche Stiche— und dann ist es, als ob es aussetzt— »
    Es war nicht nur Einbildung. Während
ich sie untersuchte, mußte ich an ihre Schwester denken. Es war mir, als stände
ich wieder in dem kleinen Zimmer mit der düsteren Blattpflanze und dem
Baldriangeruch und horchte an einem Herzen herum, das nicht mehr schlug.
    Unsinn. Agnes lebte. Ihr Herz schlug,
wenn auch nicht so, wie es schlagen sollte.
    Schon während sie sich anzog, fragte
Agnes.
    «Ist es

Weitere Kostenlose Bücher