Fünf Brüder wie wir
allen Wolken.
„Und was ist mit der Schule?“, fragte Mama.
„Da ist Streik“, sagte Jean Eins.
„Streik?“, fragte sie.
„Die Schule ist geschlossen“, sagte Jean Eins. „Dort findet bis auf Weiteres kein Unterricht statt.“
„Das hat gerade noch gefehlt“, seufzte Mama.
Wir waren begeistert.
Der Streik kam gerade zur rechten Zeit: Im Mai werden sonst immer viele Klassenarbeiten geschrieben. Aber jetzt gab es keinen Unterricht mehr, keine Hausaufgaben, keine Klassenarbeiten. Es war wie Sommerferien vor den Sommerferien.
Wir verbrachten die Tage auf dem Parkplatz vor unserem Hochhaus mit Rollschuhfahren und radelten etwas in der Gegend herum. Um fünf Uhr mussten wir zu Fuß bis ins elfte Stockwerk hochsteigen, weil es keinen Strom gab.
So früh in die Wohnung zurückzumüssen, fanden wir ziemlich ärgerlich, und dann auch noch die vielen Treppen hoch, mit den Fahrrädern über der Schulter. Aber Mama blieb hart: „Kommt nicht infrage, dass ihr euch da draußen rumtreibt, jetzt, wo so viel los ist!“
Gegenüber von unserem Hochhaus war das Büro der Gewerkschaft. Deshalb klebten wir jeden Tag um fünf Uhr an den Fensterscheiben, um uns die Demonstration anzugucken.
Die Leute schienen viel Spaß dabei zu haben. Sie trugen Transparente, hatten sich rechts und links untergehakt und riefen: „Der – Kampf – geht – weiter, es – fängt – erst – an! Der – Kampf – geht – weiter, es – fängt – erst – an!“
Wir waren nicht die Einzigen, die der Versammlung zuschauten. Rings um den Platz waren Polizisten mit Helmen samt durchsichtigem Visier, wie die Astronauten. Die Demonstranten riefen: „Freiheit für alle! Bullen, solidarisiert euch!“ Aber die Polizisten schienen das gar nicht lustig zu finden.
„Haben Sie gesehen, was sich in Paris abspielt?“, fragte Herr Le Bihan Papa jeden Abend. „Die Studenten haben die Sorbonne gestürmt. Es gibt kein Benzin mehr. Und was macht der General?“
„Ach, wissen Sie“, antwortete Papa und zog gleichgültig an seiner Pfeife, „ich und die Politik …“
„Na, wie Sie meinen“, erwiderte Herr Le Bihan, „ich habe jedenfalls im Keller Zucker gehortet. Man kann nie wissen!“
Wegen der vielen Ereignisse – die bevorstehende Geburt des Babys, Papas Heimwerkereien und weil draußen so viel los war – war Mama etwas am Ende mit den Nerven. Der Tag, an dem wir anfingen, aus dem elften Stockwerk auf die Passanten zu spucken statt unsere Zimmer aufzuräumen, hat das Fass dann zum Überlaufen gebracht.
Herr Le Bihan stand stocksteif im Eingang und blickte angeekelt auf seinen Hut, als wäre darauf Vogelkacke niedergeprasselt.
„Jetzt reicht’s endgültig“, sagte Mama. „Alle auf die Zimmer, und zwar dalli, dalli! Bis auf Weiteres kein Rollschuhfahren und keine Nachspeise mehr.“
Jean Eins organisierte alles. Ich fand den Plan sehr mutig, aber weil er immer der Boss sein will, war nicht mehr daran zu rütteln. „An die Arbeit!“, rief er. „Wer aufmuckt, bekommt es mit mir zu tun.“
Als Papa abends nach Hause kam, waren wir mit allem fertig.
„Geh du als Erster“, sagte ich, „wenn du dich schon so aufspielst.“
„Alle gemeinsam oder gar nicht“, sagte er. „Da muss man strategisch denken.“
„Nein, ich zuerst, ich zuerst!“, drängelte Jean Fünf.
„Sie werden uns umbringen“, sagte Jean Drei.
„Und du bist schuld daran“, sagte Jean Vier.
„Ich hab’s doch gewusst“, sagte Jean Eins. „Ihr macht euch alle in die Hose, ihr Wichtel!“
Wir fingen an, uns zu prügeln, und dann rief Papa, dass wir den Tisch decken sollten.
Das gab den Ausschlag.
„Sie haben wirklich nichts begriffen! Geschieht ihnen recht!“, sagte Jean Eins. „Die Kleinen an der Spitze, die Großen dahinter.“
„Warum wir?“, fragte Jean Vier.
„Das verstehst du nicht“, sagte Jean Eins. „Das ist Politik.“
Als wir ins Wohnzimmer kamen, waren wir etwas kleinlaut; bis auf Jean Fünf, der noch nicht lesen kann und stolz seine Tafel schwenkte.
Papa und Mama fielen fast die Augen aus dem Kopf.
„Was ist das denn?“, fragten sie.
„D-das ist ein Generalstreik“, stammelte Jean Fünf. „Jean Eins hat das gesagt.“
„Ein Generalstreik?“, fragte Papa verdutzt. „Und warum?“
Jean Eins hielt unsere Tafel hoch. Wir hatten sie aus einem alten Pappkarton gebastelt. Auch den Spruch hatte er sich ausgedacht.
Jean Drei hatte ihn mit Filzstift in riesigen Buchstaben aufgemalt:
„Bist du dir
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