Fuenf Frauen, der Krieg und die Liebe
sie Hunger hatte, knabberte sie Kekse aus der Dose, die Bruno ihr mitgebracht hatte.
Alles war mühsam, selbst heute, als die Pensionswirtin laut an Tannis Tür klopfte und rief: »Mrs. Zayman! Brief für Sie.« Tanni hielt die Luft an und saß vollkommen reglos auf ihrem Stuhl. Sie hoffte, die Frau würde denken, dass sie ausgegangen sei. Zu versuchen, mit ihr Englisch zu sprechen, war einfach zu anstrengend. Die Wirtin hatte einen starken irischen Akzent und wenn Tanni sie bat, etwas zu wiederholen, was sie gesagt hatte, hob sie die Stimme und ihr Akzent trat noch deutlicher zutage. Tanni konnte versuchen, was sie wollte, hier in England schien sie nie das Richtige zu tun.
Selbst die Aussicht auf einen Brief konnte sie nicht wachrütteln. Sie machte sich nichts mehr aus Briefen. Als sie nicht gleich öffnete, schob die Wirtin etwas unter der Tür durch. Tanni hörte das Rascheln von Papier, dann die grummelnde Frau, deren Schritte sich entfernten und den Flur hinunterschlurften, in dem es nach Kohl und Kanalisation roch. Der Briefumschlag lag eine Weile auf dem Boden, bevor Tanni ihn sich ansah. Als sie es schließlich doch tat, erkannte sie, dass es ein dünner blauer Papierumschlag war, mit deutschen Briefmarken und offiziellen Stempeln und Unterschriften darauf. Ihr Herz machte einen Satz, als sie die Handschrift ihrer Mutter erkannte. Sie legte das schlafende Baby ab und stand langsam auf. Wenn sie sich zu schnell bewegte, wurde ihrschwindelig. Ihr Körper fühlte sich wund an und sie war müde, obwohl die Geburt nun schon vier Wochen zurücklag.
Sie bückte sich und hob den Umschlag auf. Er war schon im April abgestempelt worden und sah aus, als hätte ihn jemand geöffnet und nicht sonderlich geschickt wieder zugeklebt. Tanni griff nach ihrer Nähschere und schlitzte den Umschlag auf. Sie zog ein dünnes Blatt Papier hervor, das auf beiden Seiten mit einer winzigen, verkrampften Schrift beschrieben war.
Mein geliebtes Kind,
ich hoffe, dir und Bruno geht es gut. Und dass du meine anderen Briefe bekommen hast, doch man kann sich nicht sicher sein, daher schreibe ich noch einmal, um dir zu sagen, dass wir die schreckliche Nacht, in der ihr abgereist seid, sicher und wohlbehalten überstanden haben. Kurz bevor die Meute in den Straßen unsere Tür einschlug, haben der Bürgermeister und der Polizeichef uns gerettet. Erinnerst du dich, wie Papa sich um den kleinen Jungen des Bürgermeisters gekümmert und der Frau des Polizeichefs geholfen hat, als sie diese schlimme Lungenentzündung hatte? Unsere Rettung hatte jedoch einen hohen Preis. Das Beste, was sie für uns tun konnten, war, der Meute den Weg zu einem anderen jüdischen Haus zu weisen. Mein einziger Trost in dieser schrecklichen Nacht war die Gewissheit, dass ihr die Reise in ein sicheres Land angetreten hattet und dass Lili und Klara euch dorthin folgen können.
Bruno hat uns geschrieben, dass du nun selbst bald Mutter wirst. Welch glückliche Nachrichten! Wie gern wäre ich nun bei dir, um mich um dich zu kümmern, aber du bist jung und alles wird gut, da bin ich mir sicher. Wenn dir morgens übel ist, hilft es, wenn du langsam ein Stück eingelegten Ingwer lutschst. Frau Zayman meint, du solltest etwas Brot vom Vortag mit ein wenig Salz im Ofen trocknen und es in einer Dose an deinem Bett aufbewahren. Iss ein Stück vor dem Aufstehen. Papa sagt, ein paar Löffel Brandy mit Wasser helfen, wenn dir sehr übel ist, und dass du versuchen musst, frische Milch und viel Obst zu bekommen.
Wir rechnen damit, dass wir lang bevor das Baby kommt, bei euch in England sind! Es ist jedoch viel passiert, das uns aufgehalten hat.
Bald nach eurer Abreise wurde das Haus konfisziert. Wir hatten nur wenige Augenblicke Zeit, um unsere Kleider und ein paar Habseligkeiten zusammenzusuchen. Es blieb keine Zeit, das Klavier zu verkaufen oder das Silber und die Gemälde und Papas Bücher zu packen, sodass wir auch diese Dinge verloren haben, aber es sind nur Gegenstände und wir dürfen nicht zulassen, dass ihr Verlust uns mit Bedauern erfüllt. Wir sind gesund und in Sicherheit, auch wenn wir ein wenig beengt leben, da wir nun in Frau Zaymans kleiner Wohnung wohnen. Abgesehen von ihrer Arthritis geht es uns allen gut, Gott sei Dank, und ich bin inzwischen recht geschickt darin, Kartoffeln zu kochen. Wir haben mehr Glück als manch andere, da die
Weitere Kostenlose Bücher