Fuenf Frauen, der Krieg und die Liebe
viel abgenommen, dass das Kleid viel zu groß war. Sie musste wieder ihr Nähzeug hervorholen und es an den Nähten enger machen. Das würde sie tun, sobald sie das Zimmer aufgeräumt und das Bett gelüftet hatte, doch zuerst musste sie mit Tante Berthe sprechen.
Sie wickelte Johnny in ein Laken aus der Wiege, nahm ihre Handtasche und schloss leise die Tür. Im Wohnzimmer hörte sie das Radio, also schlich sie auf Zehenspitzen vorbei, damit die Pensionswirtin nichts merkte. Draußen überlegte sie, ob es für das Baby zu heiß war oder ob sie ihn besser in ein weiteres Tuch gewickelt hätte. Konnten sich kleine Babys selbst an heißen Tagen erkälten? Sie wusste es nicht. Wenn doch nur ihre Mutter hier wäre.Aber sie würde bald kommen, dachte Tanni, und schon war ihr leichter ums Herz. Was für ein wunderbar sonniger Nachmittag! Sie summte Johnny ein kleines Lied vor, während sie mit ihm auf dem Arm durch die Straßen ging.
Die Cohens lebten weit entfernt in einem Teil von Bethnal Green, wo alle Frauen Kopftücher und die Männer große Hüte trugen, unter denen lange Haarlocken hervorsahen. Sie trugen schwarze Anzüge, ihre weißen Hemden standen am Hals offen. Überall liefen Kinder umher und die Leute unterhielten sich in einer Sprache, die Tanni nicht verstand. Sie dachte an das, was Anton über seine orthodoxen Verwandten erzählt hatte, und ihr Herz verkrampfte sich. Nein, sie durfte jetzt nicht an Anton denken, sie war eine verheiratete Frau und Mutter.
Als Tanni die Straße erreichte, in der Tante Berthe wohnte, sah sie zwei elegant gekleidete Damen mit Klemmbrettern. Sie trugen Hüte, feine Lederhandschuhe und polierte Schuhe. Die anderen Frauen in der Straße hatten meist schwarze Sachen an, lange Röcke und dicke Strümpfe, ihr Haar war bedeckt. Die beiden eleganten Fremden wirkten fehl am Platz. Sie erinnerten Tanni auf beruhigende Weise an ihre Mutter. Als sie näher kam, hörte sie sie in der abgehackten, präzisen Art und Weise Englisch sprechen, wie sie es in der Schule gelernt hatte. Sie lächelte sie scheu an. Als eine große Familie mit schwarz gekleideten Kindern vorbeiging, wandte der Vater die Augen von den Damen ab.
Eine von ihnen murmelte: »Es sind einfach so viele. Wie können ihre Eltern sie nur auseinanderhalten? Und trotzdem ziehen sie eine Evakuierung überhaupt nicht in Betracht. Die Eltern sprechen noch nicht einmal richtig Englisch. Und sie sind sehr, sehr halsstarrig. Man sollte die Kinder zwangsweise evakuieren, wenn du mich fragst.«
»Ehrlich gesagt, Penelope, kann man wirklich verstehen, warum die Deutschen …«
»Ja, wirklich! Na, komm, hier verschwenden wir unsere Zeit.« Die beiden Damen kletterten in ein schwarzes Auto, in dem ein Fahrer wartete.
Tanni hastete zu dem schmalen Haus, in dem die Cohens lebten. In dem kleinen Vorgarten blühten bunte Duftwicken und an den Fenstern hingen gestärkte weiße Gardinen.
Rabbi Cohen hatte in seinem Arbeitszimmer zu tun, doch seine Frau begrüßte Tanni herzlich, gab ihr einen Kuss und machte ein großes Getue um Johnny. Dann führte sie Tanni den Flur entlang in die kleine Küche, in der es betörend nach Kuchen duftete. Mehrere Frauen saßen dicht gedrängt um den Küchentisch, auf dem ein Stapel mit Papieren lag. Sie blickten auf, als Tanni eintrat, und Tante Berthe stellte sie vor. Die Frauen hatten allesamt Tücher fest um den Kopf gewickelt und starrten auf Tannis Hut und ihre braune Locken, die darunter hervorquollen. Der Hut war ein fesches kleines Ding, das Frau Zayman aus dem Filz von Dr. Josephs ältestem grauen Homburger gezaubert und mit Resten von Bändern und schließlich mit einem übrig gebliebenen Stückchen Schleier verziert hatte. Doch als die Frauen Johnny sahen, lächelten sie, streckten die Hände aus, um ihm über die Wange zu streicheln, und rückten ihre Stühle zusammen, um Platz für Tanni zu machen. Bald schlief Johnny ein.
Tante Berthe brachte Tee mit Zitrone in Gläsern, einen Teller mit Mandelkuchen und eine Schüssel mit dunkelroten Kirschen. Tanni schwieg höflich, während die anderen sich unterhielten, nippte an ihrem Tee, aß ein Stück Kuchen und dachte, wie köstlich er schmeckte. Sie wollte Tante Berthe unbedingt den Brief ihrer Mutter zeigen, doch die anderen Frauen unterhielten sich über etwas in der Sprache, die Tanni nicht verstand. Sie gab den Versuch zuzuhören auf und wartete auf eine Möglichkeit, etwas sagen zu können. In der Zwischenzeit nahm sie ein zweites, dann ein
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