Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
Vom Netzwerk:
scheint tatsächlich aufzuschauen, jetzt vielleicht nicht gerade direkt zu ihr, aber doch wenigstens in ihre Richtung.
    Er tritt die Schuhe aus dem Weg und schlurft den Flur entlang. Meine Mutter läuft ihm nach, setzt die Füße in die Schneise, die er freimacht, während sie vor lauter Unsicherheit weiter von der Schule erzählt, die ja, äh, tatsächlich eine ganz besondere, also nur für ganz besonders begabte Kinder, sei, »da lernen sie schon ab der ersten Klasse Englisch. Und Französisch. Ab der zweiten.«
    Er geht durchs Wohnzimmer, auf den Fernseher zu, drückt an den Knöpfen neben dem Bildschirm herum. Das Kreischen wird leiser. Dafür wird meine Mutter immer lauter.
    Als sei sie die Direktorin und er ein unentschlossener Vater, den es zu überzeugen gilt, beschreibt sie in glühenden Farben all die Zusatzleistungen, die die Schule biete, baut ihr ein Labor, dann ein Musikzimmer, denkt sich immer neue Kurse und Tests aus, mit denen die Spreu vom Weizen getrennt werde, denn »da können natürlich nur die Besten der Besten mithalten.«
    Ein stimmloses Lachen, eins von denen, die fast nur aus Luft bestehen, drückt sich zwischen seinen Lippen hervor.
    »Was?«, fragt sie und versucht es ihm nachzutun.
    »Ach nichts.« Er lässt sich aufs Sofa fallen, friemelt ein Zigarettenpäckchen aus der Ritze. Gauloises liest sie und spricht sich das Wort vor, als müsse sie es auswendig lernen. Er stößt die Kante auf seinem Knie auf, zieht eine Zigarette heraus und wirft das Päckchen auf den Tisch. Der Filter steckt schon zwischen seinen Lippen, als er unvermittelt »ihr Deutschen habt einfach was übrig fürs Selektieren, was?« sagt. Die Spitze glüht auf. Die Buchstabenreste auf seiner Brust ziehen sich auseinander.
    Meine Mutter starrt ihn an, während er in aller Seelenruhe den Rauch vor sich ausstößt, sieht, wie er die Zigarette an den Mund führt, die Pupillen, die sich wieder an der Spitze festhalten, als würde er schielen. Ihr Arm verschwimmt vor ihren Augen, während sie auf den Ohrensessel zeigt. »Darf ich?«
    Er zuckt die Schultern.
    Meine Mutter stolpert durch das Flaschenlabyrinth. Setzt sich. Glotzt weiter auf seine Hand, aus der die Zigarette wächst wie ein sechster Finger. Ihr fällt ein, dass es nur ein paar Tage her ist, dass dieselben Finger in ihr drin waren, aber es gelingt ihr nicht, die Hand aus dem Rutschbahnhäuschen und die von heute zusammenzubringen.
    »Und? Was hast du so gemacht?«, fragt sie.
    Er reibt sich über den Hinterkopf, zieht ein Bein zu sich auf den Sitz. »Geschlafen.«
    »Nein, ich meine, seit neulich, die ganze Zeit.«
    »Das Gleiche.« Er lacht wieder. »Na, und halt gearbeitet.«
    »Ach? In diesem Restaurant?«
    Er bohrt den Zeigefinger neben seinen großen Zeh, nickt langsam.
    »Dann bist du wahrscheinlich abends immer da, was? Ich mein nur, weil ich dich die ganze Zeit nicht gesehen hab.«
    Er zuckt wieder mit den Schultern. »Ich hock nicht gern zu Hause rum.« Sein Finger hüpft über den zweitgrößten Zeh, über den mittleren, bis zum kleinen und wieder zurück, wie bei diesen Straßenkünstlern, die in immer schnellerem Tempo mit einem Messer in die Fingerzwischenräume hacken. »Und du?«
    Nichts, denkt sie.
    »Ich war krank«, sagt sie.
    Er nimmt einen tiefen Zug, legt den Kopf nach hinten, stößt den Rauch zur Decke. »Und, geht’s dir jetzt besser?«
    Sie denkt daran, wie sie mit zugeschwollenem Hals im Bett gelegen und an sein Gesicht gedacht hat, an die verwarteten Tage, die vielen, vielen Stunden am Fenster, vor der Tür, an denen sie ihn vor Sehnsucht und Unruhe und Hoffnung am ganzen Körper gespürt hat, denkt daran, wie nah er ihr in dieser Zeit gewesen ist. Und wie fern jetzt, wo sie endlich neben ihm sitzt. Geht es ihr jetzt besser? Wie eine hängende Schallplatte eiert die Frage in ihrem Kopf. Ist das besser?
    Sie schaut auf die brennende Spitze, während sie verzweifelt nach einer Antwort sucht, aber er hat die Frage offenbar schon vergessen. Oder vielleicht auch meine Mutter selbst. Die Stille zwischen ihnen wird dick und dicker, bis es unmöglich ist, sie noch zu überbrücken.
    Das Einzige, was zu hören ist, ist die leise Wut aus dem Fernseher.
    Sie lässt den Blick durch den Raum schweifen, betrachtet die Wand, die wohl mal weiß war, aber jetzt, wahrscheinlich von all dem Rauch, völlig gelb ist, wie Löschpapier, stumpf, mit winzigen, schwarzen Fädchen darin. Sie schaut zum Fenster. Schaut wieder zu ihm.
    Wie konnte sie nur glauben,

Weitere Kostenlose Bücher