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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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Überraschungsei, abgesehen von der porzellanenen Balletttänzerin mit dem Schwanenkamm, die hinter den andern auf einem Sockel thront. Das weiße Röckchen steht steif nach oben. Darunter hat ihr jemand mit Kugelschreiber ein schwarzes Dreieck zwischen die Beine gemalt.
    Meine Mutter dreht sich um, geht zu dem Poster der Unterwäschefrau, spaziert durch den Raum, als sei sie in einem Museum, während ihr die Laute aus seinem Mund jetzt wieder in normaler Lautstärke folgen. Sie geht um die Matratze herum, am Fernseher vorbei, der jetzt ausgeschaltet ist, sieht die klebrigen Glasränder darauf, und irgendwie hat es etwas Tröstliches, dass sie weiß, wo die herkommen, dass sie das alles schon kennt, als sei sie am Ende doch nicht so fremd. Als sei es das Zuhause eines Freundes, ein Ort, der ihr vertraut ist, und im Grunde ist er das ja auch. Tatsächlich könnte sie die Wohnung mit geschlossenen Augen nachzeichnen, das lang gezogene L mit den drei kleinen Zimmern am Schaft und den beiden großen nach dem Knick, die Speisekammer in der Küche, die Nische an der gegenüberliegenden Seite. Sie kennt die verschnörkelten Türen, die schmalen Dielen, auch wenn von denen hier das Ochsenblut splittert, kennt die Ecke im zweiten Zimmer, wo eben jene Dielen plötzlich abreißen und stattdessen ein Quadrat aus hellem Holz aus dem Boden bricht, da, wo früher der Ofen stand. Sie kennt die hohen Decken, die dünnen Wände, und vor allem kennt sie die Fenster, vier große Flügel unten, vier kleine oben, den Sims davor. Sie schiebt die Gardine beiseite, die ebenfalls völlig gelb ist, und schaut in den Hof, auf die Mülltonnen, lässt den Blick über die immer grüner sprießenden Ranken schweifen, genau wie sie es die ganze Zeit auf der anderen Seite gemacht hat, an der Wand entlang, bis sie ihre eigene Wohnung findet, das offene Fenster, hinter dem sie eben noch gestanden und genau hierher geschaut hat. Sie sieht den Nachttisch, den Bücherstapel darauf, so hoch, dass er von hier aus wie ein Schrank aussieht, betrachtet ihr Schlafzimmer, während er sich verabschiedet, fragt sich, woher sie das eigentlich wissen will, aber tatsächlich legt er keine drei Sekunden später auf.
    »Was Wichtiges?«, fragt sie und dreht sich um.
    Er schaut kurz auf. In seinem Gesicht hängt noch ein Lächeln, zu herzlich, als dass es ihr gelten könne. »Nur die Arbeit.«
    »Ah«, sagt sie, auch wenn sie es etwas seltsam findet, dass ein so langes und intim wirkendes Gespräch beruflich sein soll.
    Er zündet sich eine neue Zigarette an. »So ein reiches Tier will, dass wir einen Kindergeburtstag für seine Tochter ausrichten«, sagt er, als habe er ihre Zweifel gehört.
    Sie geht einen Schritt nach vorne. »Macht ihr so was oft?«
    Er schüttelt den Kopf.
    »Ah«, sagt sie noch mal. Sie schaut von rechts nach links, als würde sie eine Straße überqueren, dann setzt sie sich kurzerhand neben ihn aufs Sofa.
    Er sinkt zur Seite, lässt den Oberkörper über die Lehne hängen, als habe man ihn darüber ausgekippt.
    So schnell es gekommen ist, so schnell rinnt das bisschen Leben wieder aus ihm heraus. Das Lächeln fällt von seinen Lippen, die Augen nehmen diesen leeren Ausdruck an, während er über seine Knie hinweg auf den Fernseher starrt. Die Zigarettenspitze spiegelt sich auf dem leeren Bildschirm. Meine Mutter sieht sein Gesicht in schwarz-grau, darunter, ganz klein im Eck, sich selbst, die Augen, die in den tiefen Höhlen unruhig herumschwimmen, bis sich der Rauch wie eine nach unten rollende Lawine über ihrer beider Köpfe schiebt.
    »Wie heißt sie eigentlich?«
    Sie dreht sich zu ihm. »Wer?«
    »Deine Tochter?« Seine Stimme erstickt im Rauch.
    »Anna.« Der Name flutscht aus ihrem Mund, als läge er dort schon ewig bereit, als habe er nur auf den richtigen Moment gewartet, herauszuplatzen. Anna. AaaNaa. Die denkbar einfachste Buchstabenkombination, Aaaanaaaa, im Grunde selbst nicht mehr als ein langes Gähnen. Dann merkt sie, dass er aus ihrem Kind ein Mädchen gemacht hat. Sieht sie aus wie eine Mädchen-Mutter, wie jemand, der Zöpfe flicht und Rüschenkleider näht? Warum kein Junge? Warum eine Sie? Oder ist das etwa nur ein Test? Hat er etwas gemerkt und will ihr eine Falle stellen? Schon ist sie bereit, alles zuzugeben, ihr ganzes kinderloses, unverheiratetes Streberleben, aber er sagt: »meine kleine Schwester heißt auch Anna.«
    »Wirklich?«, ruft sie, »wirklich?«, als sei es ein irrwitziger Zufall, dass sich zwei Menschen

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