Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
Vom Netzwerk:
den wahrscheinlich häufigsten Namen auf der ganzen Welt teilen, und für einen Augenblick glaubt sie fast selbst daran, dass es Fügung ist, ein Wink des Schicksals, er hat ihr eine Tochter gegeben und sie ihr den Namen seiner Schwester, nur damit sich ihrer beider Geschichten ineinander verhaken, erst in der Vergangenheit und dann hoffentlich auch in der Zukunft.
    Er fischt einen zerschlissenen Geldbeutel unter dem Sofa hervor und zieht ein Foto von einer Menschengruppe heraus, die dicht gedrängt vor einem grauen, viereckigen Haus steht, 15, 20 Leute, mit alten Mänteln und alten Gesichtern. Auf dem Dach liegt Schnee.
    Sein Gesicht wird weich.
    Er sagt: »Das ist sie«, und lächelt, »das ist meine Anna.«
    Sie muss sich zwingen, sich von seinem Lächeln loszureißen, das wieder nichts mit ihr zu tun hat, das schönste Lächeln, das man sich überhaupt denken kann, zu schön, als dass man es sich verdienen könnte. So ein Lächeln bekommt man nur geschenkt.
    Die Augen meiner Mutter folgen seinem Zeigefinger, betrachten eifersüchtig die schmale Gestalt am Bildrand.
    Sie sieht ihm überhaupt nicht ähnlich. Ihre Lippen beschreiben eine Wellenlinie, die Augen sind dunkel und stehen so dicht beieinander, dass sie fast etwas beschränkt aussieht. An ihren Ohrläppchen, die zwischen wattigen Löckchen hervorkommen, hängen winzige, goldene Kreolen. Darüber trägt sie eine dicke Wollmütze, die sie bis kurz über die Brauen gezogen hat.
    »Ist ein ziemlich altes Foto«, sagt er, »damals war sie noch ganz klein.«
    »Wie alt ist sie denn heute?«, fragt meine Mutter und gibt sich Mühe, interessiert zu klingen, während ihr Blick wieder zu seinen Lippen steigt.
    »Neunzehn«, sagt er.
    »Ah«, sagt sie und nickt, als würde es auf ihre Zustimmung ankommen.
    Er zieht eine leere Flasche vom Boden und ascht hinein.
    »Lebt sie noch da, in der Ukraine?«, fragt meine Mutter. Sie freut sich, dass sie sich das gemerkt hat und hofft, dass es ihn auch freut.
    »Ähä«, sagt er. Er klemmt die Zigarette im Mundwinkel ein. Der Trikotstoff, der sich an seinem Arm plustert, berührt ganz leicht ihren Ellenbogen.
    »Was macht sie so?«
    »Nix.« Er nimmt einen Zug, ohne die Zigarette dabei mit den Fingern zu berühren. »Sie ist ihr ganzes Leben noch nicht aus Odessa rausgekommen.«
    »Ah, aus Odessa seid ihr«, sagt meine Mutter und nickt wieder, denkt darüber nach, was sie ihn als Nächstes fragen könnte, aber zu ihrer Überraschung redet er ganz von alleine weiter. »Ihr geht’s nicht gut. Hat irgend so nen Säufer geheiratet. Ein Kind hat er schon gehabt, drei haben sie zusammen gemacht. Jetzt wohnen sie bei seiner Mutter und schlafen alle sieben in einem Zimmer. Keine Arbeit, sitzen nur den ganzen Tag in der kalten Wohnung rum und streiten.«
    Er lässt das Foto auf sein Knie sinken.
    Von all den Worten, die er plötzlich für sie übrig hat, ist meine Mutter fast ein bisschen benommen. Etwas unsicher, ob er noch mehr sagen will, wartet sie ab, aber er nimmt nur den nächsten Zug und stößt den Rauch schief durch den Mundwinkel wieder aus.
    »Könnten sie nicht auch nach Deutschland kommen so wie du?«, fragt sie, als sie sich ganz sicher ist, dass nichts mehr nachkommt.
    Alex grinst. »Anna kann die Deutschen nicht leiden.«
    Meine Mutter dreht ein wenig den Kopf zu ihm, während sie peinlichst darauf achtet, ihren Ellenbogen still zu halten. Ihre Augen huschen über die gelben Zähne, während sie zu entscheiden versucht, ob das diesmal ein gutes oder ein böses Grinsen ist. »Warum denn nicht?«, fragt sie endlich.
    Er zuckt die Schultern. »Wer mag die schon?«
    Er steckt das Foto zurück in den Geldbeutel, beugt sich nach vorne und nimmt das Gauloises-Päckchen vom Wäschekorb. Sein Po hebt sich ein wenig und senkt sich wieder, ein paar Zentimeter neben der ursprünglichen Stelle, noch weiter von meiner Mutter entfernt, wie ihr scheint. Sie sieht zu, wie er die Zigarette festhält und nicht sie, sieht, wie sich seine Lippen um den Filter legen und nicht um sie, wie er den Rauch ausstößt und irgendwo hinsieht, aber nicht zu ihr, und hält es plötzlich nicht mehr aus. Sie beugt sich zu ihm, so nah, dass ihr Gesicht fast schon seines berührt. Als er plötzlich aufschaut. Seine Brauen springen nach oben.
    »Kann ich, äh, kann ich einen Zug haben?«, stottert sie.
    Er atmet aus. Der Rauch wabert ihr ins Gesicht. »Kriegst auch ne ganze Zigarette.«
    Meine Mutter schüttelt den Kopf, »einmal ziehen ist genug«, sagt

Weitere Kostenlose Bücher