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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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Finger fahren an den Augenwinkeln entlang, als klebe noch immer der Schlaf darin, ziehen die Lippe so weit zum Kinn, dass meine Mutter zum ersten Mal auch seine untere Zahnreihe sieht, die sogar noch ein bisschen gelber ist als die obere, an manchen Stellen fast schwarz, als habe jemand einen Haufen abgebrannter Streichhölzer in den Sand gesteckt.
    Er liest die Kleidungsstücke vom Boden und drückt sie ihr in die Arme. Dann dreht er sich um, geht um den Wäschekorb herum und lässt meine Mutter mit ihrer Brust alleine sitzen.
    Sie sieht ihm nach, wie er mit großen Schritten zur Tür läuft. Presst den Stoff an sich. Das leere Körbchen hängt wie eine dritte Brust unter den andern beiden, während sie langsam aufsteht, einen Fuß vor den anderen setzt, ihn plötzlich »nicht hier« sagen hört, »da.«
    Er kommt zurück, legt seine Hand auf ihren Rücken. Ohne sie anzuschauen schiebt er sie den Flur entlang, unter einen Perlenvorhang hindurch, in ein kleines Zimmer hinein. Es dauert eine Weile, bis meine Mutter merkt, dass es der gleiche Raum ist, in dem sie in ihrer Wohnung das Arbeitszimmer hat, nur dass dieser hier so vollgestellt ist, dass er nicht mal halb so groß wirkt. Rechts und links sind die Wände je mit einem Stockbett verstellt, daneben Spinde, wie im Schwimmbad, aus denen aller mögliche Kram quillt. Ein paar Meter weiter lehnt eine ausgehebelte Tür. Das Fenster ist von einem Schal abgehängt. Auf den Dielen, die hier noch schlimmer aussehen, verkratzt, verspritzt, vermalt, liegt einer von diesen fusseligen Fellteppichen, wie sie in Tankstellenromanen vorm Kaminfeuer liegen.
    Er sagt: »Das ist meins« und zeigt auf das rechte untere Bett. Die Matratze ist genauso voll wie das Zimmer selbst. Rucksäcke, Kleidung, unzählige alte Fotos wie das aus seinem Geldbeutel, Formulare. Unter dem Kissen lugt ein aufgeschlagenes Buch hervor, das bäuchlings auf einer Papiertüte liegt.
    Er hebt die Tür von der Wand und stellt sie an den Rahmen wie eine Barrikade, geht zum Nachttisch. Knipst ein Lämpchen an. Der Schein reicht kaum bis zum Bett. Sein Gesicht bekommt etwas Gespenstiges, wie wenn man sich beim Gruselgeschichtenerzählen eine Taschenlampe unters Kinn hält, was meine Mutter natürlich, ja, ist ja gut, ebenfalls nie gemacht hat, »aber wie gesagt, man kriegt so was halt mit.«
    Vorsichtig, als nehme sie auf einem antiken Möbelstück Platz, setzt sie sich auf die Kante, hält den Kopf gebeugt, um sich nicht am oberen Bett zu stoßen. Sie legt die Kleider in ihren Armen neben sich aufs Kissen, nimmt eins der Fotos in die Hand. »Wer ist das?«
    »Meine Mutter«, sagt er. Wieder huscht dieses warme Lächeln über sein Gesicht.
    »Lebt die auch noch bei euch zuhause?«
    Er schüttelt den Kopf, »ist gestorben.«
    »Das tut mir leid«, sagt meine Mutter. Sie legt den Kopf zur Seite, versucht, ihm einen tröstenden Blick zuzuwerfen. Aber Alex lässt ihre Betroffenheit ungewürdigt verstreichen, schaut nur weiter auf das Bild, bis er endlich hörbar schluckt. »Sie war sehr schön, nicht wahr?«
    »Ja. Sehr«, sagt meine Mutter. Und fragt sich, warum er von allen möglichen Adjektiven ausgerechnet dieses gewählt hat. Er hätte doch auch sagen können, dass sie klug oder witzig oder irgendwas anderes gewesen sei. Warum müssen Mütter immer schön sein? Vor allem tote Mütter? Ist das ein ungeschriebenes Gesetz? Warum kann eine tote Mutter nicht auch mal hässlich sein? Alles andere geht doch auch, gemein, verlogen, brutal, nur nicht hässlich.
    Sie greift wieder in das Chaos, findet etwas, das wohl sein Personalausweis ist. Ihr Finger fährt über die kyrillischen Zeichen. »Ist das dein Geburtstag?«, fragt sie und zeigt auf ein paar Ziffern, das Einzige, was sie lesen kann.
    Aber Alex scheint keine Lust mehr auf Erzählen zu haben.
    »Kann sein.« Er nimmt ihr den Ausweis aus der Hand, wirft ihn ohne einen Blick darauf zu werfen auf den Nachttisch.
    Meine Mutter betrachtet seinen nackten Oberkörper, während er sich vors Bett kniet, sieht ihm zu, wie er sein Leben zusammensammelt und es in einem der Spinde vor ihr wegschließt. Das Körbchen rutscht noch weiter nach unten. Sie fragt sich, ob sie es wieder hochschieben oder den BH ganz ausziehen soll. Oder vielleicht will er das ja machen, vielleicht sollte sie besser warten. Aber Alex macht keine Anstalten, auch nur irgendetwas zu machen. Ganz ruhig steht er neben seinem Spind und malt mit dem Finger daran entlang, als habe er sonst nichts mehr zu

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