Fünf Kopeken
rief meine Mutter, »super«, als sei ihr ganz schnell sowieso am liebsten.
Sie lief durchs Wohnzimmer voraus auf den Balkon, wo so selten jemand hinkam, dass nur ein einzelner schmutziger Gartenstuhl bereitstand, den sie Alex überließ. Oder den er sich einfach nahm.
»Geile Aussicht«, sagte er, während er sich setzte. Er schaute zu den Häusern, in denen die ersten Lichter angingen, zog seine Gauloises aus der Tasche. Sein Feuerzeug klackte.
Meine Mutter legte die Hände um das Geländer und drückte ihren Po nach oben.
»Vorsicht!«, rief er.
Sie schüttelte abwehrend den Kopf, konnte dann aber doch nicht widerstehen, sich ein wenig nach hinten zu lehnen, sodass er fast ängstlich nach ihrem rechten Bein griff.
»Ich pass schon auf«, sagte sie lachend. Seine Finger schlossen sich noch fester um ihr Bein.
Jetzt, dachte sie.
Aber stattdessen sagte sie: »Du bist so still. Liegt dir was auf dem Herzen?«
Und Alex schien tatsächlich zu glauben, dass sie ihn meinte. »Nein«, sagte er. »Alles okay.«
Meine Mutter atmete wieder ein, krallte die Hände um das Schmiedeeisen. Der Wind strich über ihren Rücken. Irgendwo spielte jemand Klavier.
»Ist zurzeit alles ein bisschen schwierig«, drückte er schwerfällig hinterher.
»Ach wirklich?«, rief meine Mutter, froh über ihren Glückstreffer. »Was ist denn los?«
»Nichts wirklich. Gibt ein paar Probleme zu Hause.« Er fuhr sich über die Stirn. »Meine Schwester hat vorhin angerufen.«
Meine Mutter riss die Augen auf. »Anna?«
»Nein, eine von den anderen.« Er nahm einen langen Zug, behielt den Rauch einen Moment in seiner Brust, bevor er ihn in den Himmel stieß.
Sie rutschte vom Geländer und kam auf ihn zu, legte ihre Hand in seinen Nacken. Das Klavierspiel schwoll an. Oder vielleicht war es auch nur so still, dass meine Mutter es jetzt stärker wahrnahm.
Sie kraulte seinen Nacken, während er den Kopf immer weiter nach unten hängen ließ. Erst als sie die Finger nach oben schob, drehte er sich zur Seite und grub sein Gesicht in ihre Handfläche, sodass sein rechtes Auge völlig davon verdeckt wurde. »Und dann die blöde Extraschicht im Restaurant«, seine Lippen stießen gegen ihre Haut, »ausgerechnet heute Abend.«
Er sah sie mit seinem freien Auge an. Seine Pupille war so groß, dass das Gelb fast völlig davon aufgesaugt wurde.
Jetzt, dachte meine Mutter wieder.
Aber in dem Moment, oder vielleicht auch ein paar Momente später, die sie wieder ungenützt verstreichen ließ, stand er auf. Er wischte sich den Staub vom Po, drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. »Ich muss los«, sagte er und schob sich ins Innere.
»Warte«, rief sie oder dachte es vielleicht auch nur, während sie ihm nachlief.
Aber er war schon draußen.
Meine Mutter starrte auf die Tür, die vor ihr zufiel, hörte seine Schritte auf den Stufen. Hörte das Schlagen der Haustür unten. Sie hörte ihren Atem, als würde ihr jemand eine Muschel ans Ohr halten. Hörte die Worte, die sich in ihr aufbäumten, mit einem Mal so sehr aus ihr herauswollten, dass sie auf der Suche nach einem Ausgang in ihre Fingerspitzen bissen, sie in die Kniekehlen stießen, in die Waden, die Fersen.
Bis meine arme Mutter ihrem Drängen nicht mehr standhielt.
Ohne auch nur die Schürze abzunehmen, stolperte sie die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus, rannte den Gehweg entlang.
Aber Alex war noch gar nicht weit gekommen. Meine Mutter musste noch nicht mal ums zweite Eck, schon sah sie ihn auf einer Bank sitzen und mit irgendjemandem plaudern, als habe er alle Zeit der Welt. Erst als er sie erkannte, sprang er auf.
»Was ist denn los?«, fragte er, während sie angehetzt kam, so außer sich, dass sie einen Moment brauchte, bis sie merkte, dass der andere Romão war.
»Hi«, sagte der, mittlerweile fast freundlich.
»Äh, hi«, keuchte meine Mutter. Sie wischte sich den Schweiß von der Oberlippe, griff nach Alex’ Hand. »Kann ich kurz mit dir sprechen?«, fragte sie und zog ihn, ohne eine Antwort abzuwarten, mit sich in einen Hauseingang.
Sie fasste sich ans Herz, das so fest gegen ihre Rippen hämmerte, dass sie kaum sprechen konnte, sah, wie er sie ansah, verwundert, verärgert, vielleicht auch einfach nur neugierig.
»Was ist denn?«, fragte er nochmal.
Sie ergriff auch seine zweite Hand, starrte auf seine Finger, die sich wie eine Sichel nach oben bogen, als würden sie sich auf keinen Fall um ihre legen wollen. Der Schweiß lief ihr in die Augen. Und dann sagte sie
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