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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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versehentlich den Hausmeister mit dem Schulleiter verwechselt hatte, kam auf ein anderes Gymnasium, und meine Mutter hatte wieder Kopf und Nächte frei, um das zu machen, was sie am besten konnte: alle stolz. Nachdem sich die Geschichte, wie sie mit bloßen Händen ein Kätzchen ermordet hatte, rumgesprochen hatte, hatte sie sogar noch etwas mehr Zeit zur freien Verfügung, sodass sie die Hausaufgaben gleich in der Schule erledigen und direkt danach in den Laden konnte. Sie half, die neue Ware auszupacken, orderte fehlende Größen und entschied, welche Teile so schlecht liefen, dass man den Preis hochsetzen musste. »Zwanzig Prozent drauf, und schon ist der Verschluss nicht mehr unpraktisch, sondern modern«, sagte sie, und mein Großvater rief »meine Tochter!« und übertrug ihr schließlich die Aufsicht über den Laden.
    Sie hatte vier Verkäuferinnen, Frauen um die 50, die sich von meiner gerade so volljährigen Mutter sagen lassen mussten, dass die Bluse in den Rock gesteckt und ein Kunde an der Tür begrüßt gehört. Mein Großvater verfügte großzügig über ihre Fügsamkeit. Am so genannten Wochenende ließ er sie Inventur machen, das Schaufenster dekorieren, und wenn sie fertig war, sah sie die Bücher durch und zeigte ihm, wo sie Geld verschwendeten, das sie stattdessen in eine neue Werbeanzeige stecken könnten, die sie ihm dann auch gleich mal skizzierte.
    Uwe begegnete sie nie wieder. Erst ein, zwei Jahre später las sie seinen Namen in der Zeitung und brauchte mehrere Minuten, bis ihr einfiel, woher sie ihn kannte, was vielleicht sogar stimmte. Schließlich fand sie auch die Boxernase auf dem Foto, die mittlerweile wohl wirklich einige Schläge abgekriegt hatte. Das Spiel hatte er verloren, aber darüber freuen konnte sie sich nicht.
    Was blieb, war die Erinnerung an ihn, als ersten Mann, der beinahe, aber dann doch nicht wirklich, mit ihr schlief, so wie Rudi oder Manni oder Hansi der Erste war, der sie, irgendwie, aber doch nicht so richtig, küsste. Und der Erste, der sie nicht liebte, war ein Arzt, ihr Anatomieprofessor im ersten Semester.
    Sie war die einzige Frau in seinem Seminar und so jung, dass er nichts anderes sah als das. Das Suchen der Unterwäsche zwischen den Laken danach dauerte länger als der eigentliche Akt. Es blutete nicht, was sie ein wenig enttäuschte, und ihn erst recht, aber meine Mutter gab sich keine Mühe, ihn von ihrer Unbeflecktheit zu überzeugen. Das Hochzeitsfoto auf dem Nachttisch, das er noch schnell umgedreht hatte, bevor er die Hose auszog, war schon Klischee genug.
    Sie selbst fand den Sex nicht ganz so schlimm wie erwartet, aber doch weit entfernt von dem, was sie in Babsis Magazinen gelesen hatte. Ein paarmal glaubte sie, gekommen zu sein, was sich jedoch nach weiterer Recherche ebenfalls als Anfängerfehler herausstellte. Dann begannen die Semesterferien. Meine Mutter bekam einen Praktikumsplatz irgendwo im Ausland, was damals auch noch nicht die Regel war. Zum ersten Mal in ihrem Leben sollte sie ohne ihre Eltern verreisen. Aber stattdessen wurde meine Großmutter krank. Die Lunge. Was genau wusste man nicht, aber schlimm war es und erstmal nicht in den Griff zu kriegen, auch wenn meine Mutter das Praktikum natürlich absagte.
    Der Kasanfreund empfahl frische Luft, vor allem Rauch solle meine Großmutter unbedingt meiden, was in den späten 80ern gar nicht so leicht war. Aber mein Großvater brauchte keinen Staat, um seine Familie zu schützen. Von heute auf morgen führte er in allen Filialen totales Rauchverbot ein. Einem Gabelstaplerfahrer, der nicht schnell genug weggeworfen hatte, wurde fristlos gekündigt. In seinem Zeugnis schrieb mein Großvater etwas von »Suchtverhalten«, »Ansteckungsgefahr« und »Fürsorgepflicht gegenüber unseren Untergebenen«.
    Und wie immer setzte meine Mutter noch eins drauf.
    Meine Jugend (von der ich im Gegensatz zu ihr eigentlich schon ganz gerne was gehabt hätte) war ein einziger Spießrutenlauf. Man konnte nirgendwo mit ihr hingehen, ohne Gefahr zu laufen, dass sie wieder eine Szene machen würde. Es begann mit Naserümpfen, zur Seite Rutschen, Augenrollen, gefolgt von fünf, sechs »äkelhaft!«, die mit jedem Mal anschwollen. Sie wedelte mit der Hand, fasste sich an Stirn, Mund, schließlich Hals, krächzte ein wenig, und wenn man sie dann nicht schnell genug rausschaffte, musste man damit rechnen, dass sie wutentbrannt zum Nachbartisch marschierte, um der perplexen Runde einen Vortrag darüber zu halten, welchen

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