Fünf Kopeken
»Ich sag der Wolff Bescheid, dass sie die offenen Bestellungen an die anderen verteilt.«
Meine Mutter nickte. Sie griff über ihren Teller hinweg nach einem Stift.
»Aber schreib diesmal qualifiziert rein«, sagte er und tippte mit dem Zeigefinger auf ihren Notizblock.
»Jetzt esst aber endlich, es wird doch alles kalt«, rief meine Großmutter und zog stöhnend einen Stuhl an den Tisch. Sie setzte sich vor ihren eigenen Teller, der etwas kleiner war als die der anderen und auf dem neben den mittlerweile wirklich jämmerlich unter der Soße hervorschauenden Brokkoliröschen nur zwei Löffel Reis lagen, »weil sie ein bisschen aufpassen« wolle, wie sie sagte.
Erstmal passte sie aber darauf auf, dass das Projekt Nahrungsaufnahme nicht wieder aus den Augen verloren wurde. Den Kopf hin und her drehend, als sei sie beim Tennis, schaute sie von meinem Großvater zu meiner Mutter, die die Namen der Tageszeitungen, in denen sie inserieren sollte, eifrig mitschrieb, schob meinem Großvater eine Papierserviette unter das Besteck, bis er sich endlich über seine Roulade beugte.
»Wie schlimm ist es?«, rief sie, noch bevor der Bissen in seinem Mund verschwand. Sie drehte sich wieder zu meiner Mutter, die nun ihrerseits misstrauisch den Zahnstocher aus dem Röllchen zog, stürmte schließlich selbst auf den Tenniscourt wie ein verzweifelter Trainer, die Katastrophe schon ins Gesicht geschrieben. Ihr Bauch warf den obersten Schnellhefter vom Aktenberg, während sie sich über den Teller meines Großvaters beugte. Mit zusammengekniffenen Lippen zerrte sie das Messer über die Roulade, die sich quietschend wand, immer wieder auf den mit Petersilie ausgelegten Tellerrand flüchtete, bis sie sich schließlich doch er- und ein Stück Fleisch freigab.
Die Augen meiner Großmutter wurden groß und nass, während ihr Kiefer hin und her mahlte. Sie schluckte krampfartig, schüttelte sich, warf sich endlich über den Tisch, wobei sie zwei weitere Hefter vom Stapel fegte, packte die Kasserolle und kippte sie mit Schwung über dem Papierkorb aus. »Das esst ihr mir nicht«, rief sie.
»Nicht doch«, rief Arno und hielt entsetzt seinen Teller fest, den sie ihm mit beiden Händen zu entreißen versuchte. Er rammte seine Gabel ins Fleisch und biss davon ab, während er meiner Mutter einen verzweifelten Blick zuwarf, sodass sie sich auch ein Stückchen absäbelte und brav in den Mund schob. Das Fleisch zog Fäden zwischen ihren Zähnen. Es schmeckte nach Old Spice.
»Köstlich«, sagte Arno mit vollem Mund.
»Mmm«, machte auch meine Mutter. Sie piekte ein paar Reiskörner auf und nickte meiner Großmutter aufmunternd zu.
»Unsinn«, schnaubte sie und entriss Arno endgültig den Teller. Sie kratzte die Zwiebelnester vom Boden, nahm den Hörer vom Telefon. »Frau Jablonsky? Seien Sie doch bitte so gut, nehmen Sie sich ein bisschen Geld aus der Kasse und laufen Sie eben zum Bäcker«, sagte sie, worauf mein Großvater die Stirn in die Hand fallen ließ und unter dem kleinen Finger hinweg blinzelte, als sei er gerade aufgewacht.
»Hilde!«, schrie er, als sie mit den Worten »mein Mann braucht was Süßes« auflegte.
»Was?«
»Geht’s dir noch gut?«
»Aber irgendwas müsst ihr doch essen?«
»Das ist ja wohl nicht dein Ernst!«
»Habt ihr schon Pläne fürs Wochenende?«, fragte Arno schnell und ein bisschen zu laut, während seine Hand das Knie meiner Mutter suchte.
Mein Großvater warf sich gegen die Lehne. »Der Jablonsky die Taschen durchsuchen«, brummte er.
»Was denn?«, rief meine Großmutter wieder. »Ich kann hier doch nicht weg!«
Mein Großvater zog die Brauen nach oben. »Ja, das geht natürlich unmöglich.«
Meine Großmutter machte einen spitzen Mund. »Euch kann man’s auch nie recht machen«, rief sie. Sie stand aufrecht mitten im Raum, obwohl ihr das sichtlich schwer fiel. Ihre Hüfte zuckte immer wieder zur Seite, während sie versuchte, ihr Gewicht gleichmäßig auf die Beine zu verteilen.
»Also wir gehen heute Abend ganz schick aus«, rief Arno, diesmal definitiv zu laut.
Meine Mutter schaute von ihrem Notizblock auf.
»Kennt ihr vielleicht ein hübsches Lokal?«, fuhr Arno fort. »Wir wollen feiern.«
Meine Großmutter schwankte ein bisschen nach links.
Meine Mutter klickte mit dem Kuli in die Luft. Fuhr sich über die Schläfe. »Muss das sein? Ich bin total übermüdet.«
Meine Großmutter legte die Hand an den Mund und gähnte.
»Nix da!«, rief Arno, »du hast es versprochen!«
Meine
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