Fünf Tanten und ein Halleluja
wieder Toni und Curt, als wären sie unzertrennlich gewesen. Dabei hatte sich damals das Unheil doch schon angekündigt. Auch wenn das auf den Fotos nicht zu sehen war, es musste bereits Schatten gegeben haben im Paradies.
Sie gab die Fotos zurück.
»Hast du nicht auch Briefe?«, fragte sie.
»Genau. Die sind der gröÃte Schatz, sag ich dir. Und Toni kennt sie ganz bestimmt noch nicht. Die hat Curt nämlich unserem Vetter Bernhard geschrieben, in den ersten Jahren nach Tonis Geburt.« Wie zum Beweis hielt Immi einen dünnen Stapel Briefe in die Luft. »Dort schreibt er, wie stolz er auf Toni ist und wie überglücklich sein Junge ihn macht. Unser Curt. Man käme gar nicht auf den Gedanken, dass er solche Wörter überhaupt kennt.«
Sie steckte alles zurück in die Tasche.
»Wir können froh sein, dass Bernhard uns die Briefe überlassen hat«, meinte Ebba. »Wahrscheinlich weià Curt nicht einmal mehr von ihrer Existenz.«
Alle blickten Claire erwartungsvoll an. Offenbar sollte auch sie ihre Rührung durch ein paar Tränen demonstrieren. Doch stattdessen seufzte sie schwer.
»Ich weià nicht, ob das alles richtig ist.«
»Wieso denn nicht?« Immi lieà das Schloss wieder zuschnappen. »Wir werden uns ganz feierlich mit Toni zusammensetzen, und dann zeigen wir ihm alles. Damit er sich erinnert, was diese Familie wirklich zusammenhält. Curt liebt Toni. Und Toni liebt seinen Vater. Wir müssen nur alle wieder zusammenbringen. Solange die Familie gespalten ist, wird es keinen Frieden geben. Dann wird keiner glücklich sein.«
»Mag ja sein. Aber trotzdem â¦Â« Claire zögerte. »Ihr wollt also, dass Toni mit Curt seinen Frieden schlieÃt. Gut. Aber meint ihr nicht, dass eigentlich Curt den ersten Schritt machen sollte? SchlieÃlich ist er der Ãltere. Er ist Tonis Vater.«
»Ach was!«, sagte Ebba. »Toni ist alt genug. Er ist ja kein Kind mehr. AuÃerdem kennst du doch Curt, diesen sturen Hund. Eher friert die Hölle zu, als dass der den ersten Schritt macht.«
Ebba schien also schon mit Curt gesprochen zu haben. Offenbar hatte er aber nicht mit sich reden lassen. Die Zeiten, in denen gemacht wurde, was Ebba sagte, waren â zumindest was ihn betraf â längst vorbei.
Claire fühlte sich nicht wohl bei der Sache.
»Sollte Toni denn nicht irgendwann die Wahrheit erfahren?«, fragte sie. »Ich meine die ganze Wahrheit. Und zwar bevor ihr ihn dazu bringt, sich mit seinem Vater zu versöhnen?«
»Unsinn! Gar nichts muss er erfahren. Wozu soll das gut sein?«
»Weil es irgendwann nicht mehr anders geht. Man kann ihm das nicht ewig verheimlichen.«
»Ach was! Warum denn nicht?« Ebba verschränkte die Arme. »Diese alten Geschichten. Die spielen doch längst keine Rolle mehr. Dieser dumme Glaube, dass die Wahrheit immer das Beste ist! Wer hat sich das bloà ausgedacht?«
Doch Claire überzeugte sie damit nicht. »Ebba, ich finde â¦Â«
»Nein, Claire! Es ist längst beschlossene Sache. Hör mir gut zu.« Sie beugte sich vor und hielt ihr den Finger vors Gesicht. »Er darf niemals erfahren, was damals wirklich geschah. Dieses Wissen bringt nur Unglück über alle.«
»Ich weià nicht, Ebba.«
»Deine Zweifel hättest du vorher anbringen sollen. Jetzt machen wir es wie geplant. Es haben alle schon genug gelitten. Du musst es nicht noch schlimmer machen.«
Claire seufzte. »Also gut. Ich sage ihm nichts.«
Ebba quittierte das mit einem Nicken. Sie hatte sich durchgesetzt.
Gerade waren sie in einen U-Bahnhof eingefahren. Menschen stiegen aus und wieder ein. Ebba warf einen Blick auf das Stationsschild.
»O Gott!«, schrie sie. »Wir müssen aussteigen!«
Wie von der Tarantel gestochen, sprangen alle auf. Hektik brach aus. Koffer fielen um, Helga verlor ihre Sonnenbrille, und Immi stürzte mit ihrem ganzen Lebendgewicht auf einen jungen unbeteiligten Fahrgast.
»Jetzt passt doch auf, ihr blöden alten Wachteln!«
»Touristen! Det ist ja wieder ma typisch!«
Ebba lieà sich nicht beirren. »Schnell!«, rief sie. »Das schaffen wir! Passt auf euer Gepäck auf!«
Vom Bahnsteig ertönte: »Zurückbleiben bitte!«
Im letzten Moment preschten sie aus dem Zug heraus. Claire vergewisserte sich mit einem Schulterblick, dass nichts liegen geblieben war, und stieà dabei
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