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Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen

Titel: Fünf vor Zwölf - Und kein Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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marschieren über ihren Rücken wie ein Pächter über das Feld. Er betrachtet den Funkmaat und tippt sich an die Stirn. »Hören Sie mal«, sagt er, »gehen Sie zu Ihrem Kapitän und seinen Offizieren … Die Herren sind eingeladen … Verstanden?«
    »Jawohl, Herr Major«, erwidert der Möhrenkopf.
    Nach zehn Minuten erscheinen der I WO und Schiffsarzt Dr. Corbach in der Kabinenflucht.
    »Kapitän Bertram läßt sich entschuldigen«, meldet der Erste Wachoffizier, »ich soll ihn vertreten.«
    »Willkommen, mein Lieber«, begrüßt ihn der Sturmbannführer betont herzlich. »Und Sie?« fragt er den Arzt.
    »Ich komme nicht privat, sondern dienstlich«, antwortet Dr. Corbach. Sein strenges Gesicht mit der randlosen Brille bleibt sachlich.
    »Dienstlich …? Jetzt …?«
    »Ja«, antwortet Dr. Corbach, »ich kann als Arzt diese Zustände hier nicht verantworten.«
    »Wieso?«
    »Ich brauche Proviant … ich brauche Medikamente …«
    »Für was?«
    »Wollen Sie Typhus an Bord haben?«
    »Kann mir was Schöneres vorstellen«, versetzt Langenfritz, »aber die Häftlinge sind doch sowieso gesundheitlich herunter, was?«
    »Möglich«, entgegnet Dr. Corbach, »aber wollen Sie … oder Ihre Damen da … von der Seuche …«
    »Hören Sie schon auf!« faucht der Sturmbannführer. »Aber wo wollen Sie Nachschub hernehmen?«
    »Vielleicht erhalte ich es vom OKM … Es gibt doch Bestände in Neustadt …«
    »Dann ist ja alles in Ordnung«, versetzt Langenfritz. »Versuchen Sie Ihr Glück!« Er dreht sich zu Christine um. »Stell Passierscheine aus«, sagt er. Er liest Überraschung in Corbachs Gesicht, klopft ihm auf den Rücken und sagt: »Halten Sie mich denn für einen Unmenschen, Doktor?«
    Eine halbe Stunde später verlassen die beiden Marineoffiziere die Party, die weitergeht. SS-Hauptsturmführer Krappmann macht sich an die Rothaarige heran, die den Vogelkopf abwies.
    »Na, Fuchs, wie wär's mit uns beiden?«
    »Abwarten …«, erwidert das Mädchen.
    »Und wenn die ganze Erde bebt … und die Welt sich aus den Angeln hebt …«, plärrt das Grammophon.
    Die erste Begegnung Christian Straffs mit dem KZ-Häftling Nummer 8.773, dem früheren Kapitänleutnant zur See Georg Fährbach, verläuft viel undramatischer und ungefährlicher, als der Funkoffizier erwartet hatte.
    Als er erfuhr, daß Georg unter diesen knöchernen Sklaven des Systems an Bord gekommen war, hadert er nicht mehr mit der Erniedrigung des Luxusschiffes ›Cap Arcona‹ zum schwimmenden Gefängnis, und er spürt wilde Freude darüber, daß er für seinen Freund und dessen Frau etwas tun konnte.
    Maat Möhrenkopf sicherte, als sich Christian an den Speisesaal heranpirschte. Seit die alten Marinesoldaten des Sonderkommandos die Bewachung der Häftlinge übernommen hatten, war die Quarantäne der Unmenschlichkeit gelockert, zumindest, wenn die Wachhabenden, die die SS auch weiterhin stellte, Abstecher zur Party des Sturmbannführers machten.
    Bevor Christian Straff den Speisesaal erreicht hatte, nahm die Gehirnzelle des Aufstands bereits wieder die neuen Positionen ein: Die Männer der heimlichen Lagerleitung waren beinahe geschlossen als Sanitäter in das Krankenrevier eingezogen, von wo aus sie das Verhalten Tausender von Kameraden aus Frankreich, Italien, Spanien, Holland, Belgien, Dänemark, Norwegen und auch aus Deutschland steuern würden.
    Davon wußte der Funkoffizier nichts. Aber er spürte, daß er in die lautlose Automatik des Widerstands einbezogen war. An jedem Deck, auf jedem Gang standen lebende Wegschilder und wiesen ihn mit einem Blick, einer Geste oder mit einem Wort ein, beobachteten ihn dabei, verfolgten jeden seiner Schritte, denn Melber, der zwölf lange, erbarmungslose Jahre nur durch sein Mißtrauen überlebt hatte, wollte auch Georg Fährbach zuliebe kein Risiko eingehen.
    So war Straff, ohne es zu wissen, gewogen und für brauchbar befunden worden.
    »Christian«, sagt jetzt eine Stimme aus dem Dunkel.
    Der Funkoffizier fährt herum. Einen Moment stehen sich die Freunde verlegen, mit hängenden Armen gegenüber. Der eine ein Offizier, der andere ein Sklave; der eine ein Gott, der andere eine Fliege, doch zwei Menschen auf einem Schiff, das zu ihrem Schicksal werden muß.
    Sie sehen sich an. Sie sagen kein Wort. Sekunden graben mit flinken Händen die Jahre um. Sie werden einander wieder gleich: Sie waren die ›Zwillinge‹, die ihre Mütter schon im Kinderwagen gemeinsam ausfuhren, durchliefen das Gymnasium,

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