Fuer den Rest des Lebens
zu Mitleid gehört Hochmut, ich habe mich mit ihr identifiziert, und Dina hatte gerührt und dankbar zugehört. Jetzt wirft sie vorsichtig aus der Küche einen Blick hinüber, sieht sie zusammengekrümmt in der Sofaecke, in einem kurzen Jeansrock und einem weißen T-Shirt, das Gesicht hinter den Haaren verborgen, was steckt hinter dieser heftigen Reaktion, die so gar nicht zu ihr passt? Sie muss versuchen, sie zum Sprechen zu bringen, statt mit ihr zu schimpfen, und sie füllt den Wasserkessel, hast du Hunger, Nizani?, fragt sie sachlich, um ihr klarzumachen, dass der Alltag weitergeht, auch wenn harte Worte gefallen sind, eine Mutter und eine Tochter, Kaffee und Mittagessen, aber das Mädchen schüttelt den Kopf, und sie durchsucht den fast leeren Kühlschrank, sie hat keine Kraft, jetzt zu kochen, sie nimmt die Schüssel mit dem Rest Joghurtsuppe von gestern Abend heraus, und obwohl die Erinnerung an die weißliche Haut, die in der Toilette schwimmt, Ekel in ihr weckt, schneidet sie sich ein Stück von dem trockenen Weißbrot ab, tunkt es in die Schüssel, steckt es in den Mund und kaut im Stehen, vor der offenen Kühlschranktür, und überlegt sich dabei die Einkaufsliste, so viel fehlt, sie wird heute Nachmittag einkaufen gehen, den Kühlschrank füllen, Gideon wird zurückkommen, sie wird Nudeln mit einer Pilzrahmsoße kochen und sie werden zu dritt auf dem Balkon essen, vielleicht wird sie es sogar schaffen, noch einen Kuchen zu backen, einen kalten Käsekuchen, den Nizan an einem heißen Abend, wie er ihnen bevorsteht, gern isst.
Möchtest du einen Käsekuchen, Nizani?, fragt sie, aber keine Antwort ist zu hören, sie knallt die Kühlschranktür zu, es kann ihr doch eigentlich egal sein, soll er doch leer bleiben, dann gibt es eben kein Essen, dann gibt es eben kein Zuhause, dann gibt es eben keine Familie, dann waren die Jahre halt umsonst, in denen sie Nizan mit Kuchen und Gideon mit Wein verwöhnt hatte, immer in Sorge, dass nichts fehlt, damit beschäftigt, den Tisch auf dem Balkon zu decken und schön herzurichten, sich selbst immer zurückzunehmen, sie können ihr doch egal sein, wenn sie ihnen egal ist, sollen sie doch vor dem Kühlschrank Reste im Stehen essen, genau wie sie, und während sie wütend das Weißbrot kaut, sieht sie, dass ihr die Blicke ihrer Tochter durch die losen Haare folgen, und zum ersten Mal seit ihrer Geburt spürt sie ihr gegenüber eine so tiefe Fremdheit, dass es sie verlegen macht, unter diesen Blicken etwas hinunterzuschlucken. Was für ein lächerlicher Anblick, eine nicht mehr junge Frau kaut, und die Falten um ihren Mund verziehen sich, eine Frau mittleren Alters kaut, und die Sehnen an ihrem Hals treten hervor, und plötzlich hat sie das Gefühl, dass ihre Tochter sich vor ihr ekelt, vor ihrem Körper, vor ihrem Gang, und sie wird von einer so heftigen Einsamkeit gepackt, dass sie den Rest des Weißbrots in den Mülleimer wirft, ins Schlafzimmer flieht und dieses seltsame Geschöpf auf dem Sofa zurücklässt, ein Geschöpf, dessen Körper mit glänzendem Fell bedeckt ist, ohne Gesicht und vielleicht, wie sich jetzt herausstellt, auch ohne Herz.
Im Schlafzimmer hat sich seit gestern nichts verändert, das gemachte Ehebett, das leere Glas, vor allem der heruntergelassene Rollladen, der beweist, dass Gideon in der letzten Nacht nicht hier geschlafen hat, denn er zieht den Rollladen sofort hoch, sobald er die Augen aufgemacht hat. Wie hatte er einmal gesagt, ich bin süchtig nach Licht, wie können wir da zusammenleben, und sie hatte leichthin geantwortet, nun, dann werden wir wohl nicht zusammenleben. Hat er etwa in seiner Dunkelkammer geschlafen, oder hat er überhaupt nicht zu Hause geschlafen, hat er ihr Fehlen bemerkt, und wann hat er Nizan getroffen und ihr die verwirrenden Neuigkeiten mitgeteilt? Natürlich könnte sie versuchen, das herauszubekommen, aber sie könnte es auch bleiben lassen, es ist ja auch egal, und als sie die verschwitzten Sachen auszieht, fällt ihr ein, dass ihre Tochter sich nicht die Mühe gemacht hat, ihr zu sagen, dass sie sich waschen und umziehen sollte, so wie sie es auch nicht zu einer fremden Frau sagen würde, die neben ihr im Autobus sitzt, so weit haben wir uns also schon voneinander entfernt, sie steigt in Unterhose und Büstenhalter ins Bett und deckt sich mit einem leeren Bezug zu.
So muss sich jene Frau gefühlt haben, die sich umgebracht hat, hört sie sich denken, plötzlich war es ihr egal, plötzlich war ihr das Wohlergehen
Weitere Kostenlose Bücher