Fuer den Rest des Lebens
wird sie mit ihrer verrückten Idee allein lassen, und ich werde hier bei dir sein, Oma, ich muss mir das nicht anschauen, und Chemda sieht die dünnen Beine ihrer dreijährigen Tochter vor sich, wie sie ihren neugeborenen Bruder aus dem Bettchen genommen hat und mit ihm losgelaufen war, wie von einem bösen Geist getrieben, das ist mein Baby, ich bin seine gute Mutter. Natürlich ist das eine extreme Handlung, sagt sie, aber ich halte sie nicht für verrückt, im Gegenteil, sie zeigt viel Kraft, viel Hoffnung.
Ich bin so müde, Oma, kann ich mich ein bisschen zu dir legen?, fragt das Mädchen, und Chemda hebt ihre Decke an, klar, komm, schlaf bei mir, um dich vor der Trennung zu verstecken, versteck dich in meinem Herzen, weißt du noch? Und als das Mädchen sich an sie schmiegt, betrachtet sie die immer schwächer werdenden Lichtstreifen zwischen den Ritzen des Rollladens, es wird wohl Abend, und seit Wochen spürt sie zum ersten Mal so etwas wie Hunger, gleich wird die Pflegerin kommen, sie wird sie darum bitten, für sie beide einen Brei zu kochen, einen warmen Brei mit Honig und Zimt. Sag, Oma, flüstert das Mädchen in ihrem Herzen, glaubst du, dass Mama jetzt zufriedener wäre, wenn mein Zwillingsbruder gelebt hätte? Hätte ihr das gereicht? Weißt du, nur ihn habe ich immer gewollt, nur er wäre ein richtiger Bruder für mich gewesen, und Chemda sagt, ja, mein Mädchen, ich weiß. Schade, dass wir in all den Jahren nicht genug darüber gesprochen haben, seufzt das Mädchen, und Chemda sagt leise, es ist noch nicht zu spät, ich verspreche es dir, wir werden noch darüber sprechen, und sie zieht die Decke über sie und legt ihr die Hand auf die Schulter, und so wird Avner sie finden, wenn er am Abend aufgeregt und aufgewühlt zu seiner Mutter kommt.
Zehntes Kapitel
Wieder steht er vor einer Richterin, wieder trägt sie ein anderes Gesicht, und dieses Mal ist es seine Frau mit ihrer vierschrötigen Physiognomie, ihre Augen blitzen zornig und anklagend, und er hält ihr Dutzende von Dokumenten hin, die durch die häufige Verwendung schon teilweise auseinanderfallen. Ich habe alles getan, was ich konnte, sagt er, um sie zu überzeugen, lass mich im Guten gehen, beschuldige mich nicht, dann beschuldige ich dich auch nicht, wir haben uns beide geirrt, wir haben uns zu früh aneinander gebunden und nicht gewagt, uns zu trennen, lass uns doch versuchen, uns für den Rest unseres Lebens freizukaufen. Ich habe dich enttäuscht und du hast mich enttäuscht, ich habe dich verletzt und du hast mich verletzt, als ich dich wollte, hast du dich mir entzogen, und als du mich wolltest, habe ich mich dir entzogen, ich glaube wirklich, dass es in aller Unschuld passiert ist, mit der Unschuld von Kindern, die sich noch nicht bewusst sind, wie vergänglich sie sind. Ich habe in der letzten Zeit etwas verstanden, möchte er ihr sagen und achtet sogar darauf, in der Geschwindigkeit zu sprechen, die die Protokollschreiberin zum Tippen braucht, damit kein Wort verloren geht, mir ist etwas über die Liebe klar geworden, verspotte mich nicht, auch wenn ich mich lächerlich anhöre, und weißt du was, es handelt sich noch nicht mal um die Liebe, sondern um mich, ich habe kapiert, dass ich nicht ohne Liebe leben will, das heißt, ich will nicht ohne Liebe sterben, und selbst wenn ich irgendwann erkennen muss, dass zu lieben und geliebt zu werden mehr ist, als man in diesem Leben verlangen darf, dann werde ich mich mit einem von beidem begnügen, und bei uns gibt es beides nicht mehr, weder das eine noch das andere, das wissen wir, komm, hören wir auf, das ist auch für die Kinder besser, wenn wir uns jetzt, in ihrem Alter, trennen, befreien wir auch sie von der Last unserer ständigen Kämpfe.
Wie kommt es, dass wir nicht vorher daran gedacht haben, fragt er sich, obwohl er ununterbrochen darüber nachgedacht hat, jedoch mit dieser Schwarzseherei, die jeden Plan unmöglich erscheinen lässt, und jetzt ist sie weggewischt, als habe man einen dunklen Fleck von der Netzhaut entfernt, der Anblick ist gleich, nur die Sicht darauf hat sich geändert, auch wenn er sich immer wieder den Schmerz einer Trennung vorhält, das Leid der Kinder, die Langeweile während der Feiertage, die Angst vor der Einsamkeit und die Angst vor dem Alter, bleibt das Bild doch eindeutig wie eine Gleichung, für die es nur eine Lösung gibt: Er will nicht und kann nicht und muss auch nicht mit einer Frau leben, die ihm immer nur ein mürrisches Gesicht zeigt,
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