Fuer den Rest des Lebens
werden nie eine andere haben.
Sie wollte sprechen, sagt sie, lehnt sich an die Marmorplatte und dreht sich zu ihm um, sie wollte zuhören, sie wollte das Bild vollenden, und er fragt, wie war es? Sie seufzt, traurig, wie kann ein Zusammentreffen von zwei Witwen schon sein, und er schreckt zurück vor dem Stolz, den er in ihrer Stimme wahrnimmt, sie wird also von der offiziellen Witwe als zweite Witwe anerkannt, was für eine großartige Errungenschaft, und er hat Lust, sie zu schütteln, das Leben vergeht, Talia, es rennt schnell wie ein Hase, ist schlau wie ein Fuchs, reicht es nicht, dass du für diesen Mann auf die erste Hälfte deines Lebens verzichtet hast, willst du ihm auch den Rest deines Lebens opfern, wie jene indischen Witwen, die sich verbrennen lassen, und dabei bist du noch nicht einmal eine Witwe.
Dein Tee wird kalt, sagt sie, trink, ich habe eine Zitronenverbena aus dem Garten hineingetan, und er sagt, dein Leben wird kalt, und sie wirft ihm einen überraschten Blick zu und setzt sich ihm gegenüber in den Sessel, sehr aufrecht, und er stellt sich vor, dass ihr Körper so prall und hart ist wie der Körper einer Puppe, mit kleinen Brüsten ohne Brustwarze, eine Scham ohne Öffnung. Was willst du damit sagen?, fragt sie und er weicht ihrem Blick aus, wie soll er es ihr erklären? Sei nicht gekränkt, Talia, natürlich geht es mich nichts an, aber du bedeutest mir so viel und ich würde so gern sehen, dass du zum Leben zurückkehrst.
Du gehst von falschen Annahmen aus, sagt sie, ich habe nichts, wohin ich zurückkehren könnte, denn ich war nie in diesem Leben, von dem du sprichst, und ich wollte auch nie darin sein, ich wollte keine Familie, ich wollte Rafael, das ist alles, sie spricht mit einer monotonen Stimme, und er erinnert sich, wie sie auf der Bühne gesprochen hatte, und sieht Rafaels freundliches Lächeln auf dem Foto, die Menschen vermischen Liebe mit Familie, fährt sie fort, Kinder mit Lust, das passt nicht zu mir, es hat nicht zu mir gepasst, als ich jung war, und jetzt passt es auch nicht zu mir. Ihr Handy, das zwischen ihnen auf dem Tisch liegt, lässt ein kurzes Krähen hören und sie liest sorgfältig die Nachricht, ich hasse es, was hier mit den Frauen passiert, diese freiwillige und trotzdem erzwungene Versklavung, sagt sie, den Blick noch immer auf das Display gerichtet, und einen Moment lang hat er das Gefühl, als lese sie den Text ab, scheinbar sind sie unabhängig von den Männern, aber sie werden von ihren Kindern versklavt, sie hören auf, Frauen zu sein, und werden zu Müttern, ich habe das nie gewollt, gestern habe ich wieder festgestellt, was für ein Glück es für mich war, dass er seine Familie nicht verlassen hat, ich habe das bessere Los gezogen, wir hatten eine geheiligte Liebe, ohne den Alltag.
Bedauerst du wirklich nicht, dass du kein Kind hast?, fragt er, als protestiere er im Namen seiner Söhne, denn plötzlich fehlen sie ihm, und er sehnt sich danach, sie hier zu haben, an seiner Seite, und sie sagt, ich wusste immer, dass ich keine Kinder haben werde, ich mag die Dinge nicht durcheinanderbringen. Was heißt das, durcheinanderbringen?, fragt er, und sie sagt, als ich ein Kind war, habe ich gern gemalt, aber ich hasste es, Farben zu mischen, ich habe die Schönheit der Grundfarben geliebt, die meisten Kinder mischen die Farben, bis alles zu einem unklaren Brei wird, und er hört ihr zu und denkt an seine Schwester, weißt du, meine Schwester, fängt er an und hält sofort inne, er möchte ihr eigentlich nicht die Geschichte seiner Schwester erzählen, die auf einmal das Gefühl hat, dass ihr Leben ohne ein neues Kind nichts mehr wert ist, er betrachtet sie und wundert sich über sie, über alle Frauen, er sieht auf der einen Seite sie und auf der anderen seine Schwester und dazwischen seine Frau. Sie scheinen nichts Gemeinsames zu haben, außer dass alle drei ihm gegenüber auf Distanz gehen, jede von ihnen aus anderen, vielleicht sogar widersprüchlichen Motiven heraus, ist es das, was alle Frauen auf der Welt vereint? Sogar seine Praktikantin hat bereits eine heftige Abneigung gegen ihn entwickelt, doch wer weiß, vielleicht handelt es sich um eine Abneigung, die er ganz allein ausstrahlt. Er kann sie jetzt nicht mehr anschauen und wendet den Blick zum geschlossenen Fenster, Schatten zittern zwischen den zusammengedrängten Zweigen. Weicht er deshalb plötzlich vor ihr zurück, weil sie ihn nicht braucht, das hat er doch von Anfang an gewusst, das war es
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