Fuer den Rest des Lebens
Kindern wohnt, und was ist das für ein Argument, ich liebe eure Mutter nicht mehr, sie liebt mich nicht. Als könnte man Liebe messen, wie man Fieber misst, oder sie auf die Waage legen, als könnten sie eines Morgens zum Arzt gehen und sich Blut abnehmen lassen, das dann zur Untersuchung in ein Labor geschickt wird, und eine Woche später kommt das Resultat, soundso viel Liebe ist im Blut, soundso sind die Normalwerte, und dann könnten sie das Ergebnis den Kindern hinhalten, als Beweis für das Gericht? Liebe lässt sich ebenso wenig messen wie Göttlichkeit, sie bleibt den Augen verborgen.
Wenn er dort weggeht, nachdem er ihnen vorgelesen, sie umarmt, geküsst und beruhigt hat, sind seine Füße leicht und seine Schritte fest, denn der Gedanke an den Abend, den er mit seiner Frau hätte verbringen müssen, macht ihn unendlich traurig, immer wieder die gleichen beschämenden Schlammschlachten und dazu die Hoffnung, von ihr akzeptiert zu werden, eine Hoffnung, die immer wieder enttäuscht wurde, einen Abend nach dem anderen, eine Woche nach der anderen, ein Jahr nach dem anderen, das hält er nicht mehr aus. Das halte ich nicht mehr aus, sagt er sich jeden Abend, wenn er zum Auto geht, im Takt seiner Schritte, wohin rennst du eigentlich so? Er ist doch nicht auf dem Weg zu einer Kneipe oder zu einem Pub, wo sich einsame Menschen treffen, sondern zu seinem Elternhaus, zu dem schmalen Bett in seinem Jugendzimmer, um auf die Nacht zu warten, die ihn aufnehmen wird wie eine tröstende Mutter. Und auch jetzt kann er es nicht abwarten, und er schlägt vor, wollen wir schlafen gehen, Dini? Ich muss morgen zum Gericht und habe noch einiges vorzubereiten.
Ja, natürlich, sagt sie, ist es in Ordnung, wenn ich einstweilen hier bei euch wohne? Und er macht eine einladende Handbewegung, die Wohnung gehört dir ebenso gut wie mir, obwohl beide wissen, dass es ihr bei der Frage nicht um juristisches Recht geht, sondern darum, ob es möglich ist, ihr einen Raum in dem zuzugestehen, was einmal eine unüberwindliche Festung war, der Ort der Nähe zwischen einer Mutter und ihrem Sohn, zwischen einem Sohn und seiner Mutter. Dein Zimmer ist besetzt, sagt er, vielleicht schläfst du im Elternzimmer? Obwohl ihr Vater vor über zwanzig Jahren in jenem Zimmer gestorben ist, nennen sie es noch immer Elternzimmer, und sie öffnet zögernd die Tür und knipst das Licht an, ich habe mein Zimmer sowieso immer gehasst, sagt sie, und er lächelt, ich meines auch, aber jetzt liebe ich es geradezu.
Vielleicht weil du noch ein anderes Zuhause hast, meint sie, und er sagt, nein, ich habe kein anderes Zuhause mehr, und sie wirft ihm einen traurigen Blick zu, ach, Avni, ich zweifle nicht daran, dass du das Richtige tust, aber wenn man die richtigen Schritte zur unrichtigen Zeit unternimmt, tut es so weh, und er seufzt, ja, in unserem Alter gibt es keine leichten Entscheidungen mehr, der Preis wird immer höher, und da ist ein weiterer Seufzer zu hören, und Dina flüstert, siehst du, wir sind beide zu unserer Mutter zurückgekehrt und sie weiß es gar nicht, sie kann sich noch nicht einmal darüber freuen.
Oder es bedauern, sagt er, gute Nacht, Schwesterchen. In seinem Bett wartet der Schlaf auf ihn, den er nicht warten lassen will. Bevor seine Glieder erkalten und seine Umarmung ihren Reiz verliert, lässt er seine Schwester vor dem alten Doppelbett stehen und geht schnell in sein Zimmer und eine glückliche Gelassenheit senkt sich über ihn. Jetzt sind sie wieder hier, alle drei, als wäre der Vater gerade erst gestorben und hätte sie allein zurückgelassen, doch damals hatten sie sich getrennt und waren in verschiedene Richtungen davongegangen, jetzt hält sich einer an den Fehlern des anderen fest, und er legt sich auf den Rücken und schaut lächelnd hinauf zur Decke, die Zeit verspottet ihre Kinder, ist es nicht lächerlich, mit vierundvierzig, in der Mitte des Lebens, zum ersten Mal die beruhigende Existenz der Ursprungsfamilie zu spüren, und es erfüllt ihn mit rührender Dankbarkeit, zwischen seiner Mutter und seiner Schwester zu schlafen, er ist von einer langen Reise zu ihnen zurückgekehrt, ohne Furcht vor ihrer Liebe.
Am nächsten Morgen steht er früh auf, sie schlafen noch, und zwischen den Fingern seiner Mutter findet er zu seiner Überraschung einen silbernen Stift, und als er versucht, ihn ihr aus der Hand zu nehmen, packt sie ihn fester, er lässt los und stellt in der düsteren Küche Kaffeewasser auf, zwei gelbe Tassen im
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