Fuer den Rest des Lebens
schnitt, man erzählte auch, er sei seiner blinden Mutter gestohlen worden, die im Moment seines Todes ihr Augenlicht wiedererlangt hätte. War diese Mordbeschuldigung ein einzigartiges Ereignis oder nur ein Glied in einer ganzen Kette von Ereignissen, um den Boden für die anstehende Vertreibung zu bereiten? Das fragte sie sich in ihrer ersten Veröffentlichung vor fast zwanzig Jahren, für die sie der Dekan damals an der Bushaltestelle gelobt hatte, und sie war zusammengebrochen und hatte ihm die ganze Geschichte erzählt.
Doch diesmal lässt sie sich nicht von irgendwelchen Sorgen aus der Konzentration reißen, und Sorgen gibt es viele, unzählig viele: Was für ein Kind ist für sie bestimmt, wird sie es schaffen, mit den Schwierigkeiten, die es mitbringen wird, fertig zu werden, wie wird sich Gideon verhalten und welchen Einfluss wird das alles auf Nizan haben, wird ihre kleine Familie auseinanderfallen, und die bedrückendste Frage von allen, ist das Ganze nicht nur eine Verrücktheit, deren Auswirkungen bestimmt nicht auf sich warten lassen, und jede einzelne Sorge löst sich in Dutzende verschiedener Sorgen auf, und trotzdem gelingt es ihr, sie zur Seite zu schieben, wie sie es vor Jahren konnte, als sie stundenlang in der Bibliothek saß, vertieft in die Arbeit, als sie ihre ersten Aufsätze schrieb und glaubte, sich auf dem richtigen Weg zu befinden. Wie glücklich waren jene Jahre, hatte sie sich nicht ihr Leben lang danach gesehnt? Lernen, Wissen ansammeln, sich an Tatsachen klammern, die fest wie Heringe in die Erde geschlagen sind, Jahreszahlen, reale Vorgänge, keine krankhaften Phantasien darüber, was hätte sein können und nicht war, sondern so war, wie es war, alles war real.
Wie früher sitzt sie vor ihren Büchern, und ihr kommt es vor, dass zum ersten Mal seit jenem Vorfall, der sie damals von ihrem Weg abbrachte, sie diesmal wie mit einem dicken Seil festgebunden ist, das nicht leicht zu kappen ist, und nur manchmal, wenn sie aufsteht, um die Glieder zu strecken, schaut sie sich um und wundert sich, wo sie ist, genauer gesagt, in welcher Zeit, denn gerade ist sie noch das junge Mädchen gewesen, das genau in diesem Zimmer fürs Abitur lernte, im engen Wohnzimmer ihres Elternhauses, und dann erinnert sie sich an die Monate ihrer Schwangerschaft, wie erschrocken sie damals darüber war, dass Gideon sie verlassen hatte und nur Orli an ihrer Seite war, sie angeblich unterstützte und zugleich mit ihren verbotenen Geschichten ihre Einsamkeit verstärkte und hochmütig auf ihren jungen, gespannten Bauch hinabsah.
Ich werde keine Kinder auf die Welt bringen, hatte sie immer wieder gesagt, ich habe nicht vor, irgendjemanden zu pflegen, es reicht, dass ich meine kleinen Brüder aufgezogen habe, ihretwegen hatte ich keine Kindheit, jetzt will ich nur noch für mich selbst sorgen, und Dina hörte ihr verwirrt zu. Vielleicht hatte sie recht, sie würde von nun an bis an ihr Lebensende für einen anderen Menschen sorgen müssen, für einen, den sie nicht einmal kannte, der vorübergehend in ihrem Bauch lebte und von dem es gar nicht sicher war, dass er ihr gefallen würde, und sie war allein, wenn Gideon bei ihr wäre, sich mit ihr über ihre Schwangerschaft freuen würde, hätte sie sich bestimmt gefangen, aber er war verschwunden, noch bevor er wusste, dass das doppelte Geschöpf wieder zu einem einzelnen geworden war, und nun blickt sie erstaunt und mitleidig auf jene Tage zurück, wie wenig wissen wir doch, was uns bevorsteht. Wie schwer fiel es ihr damals, den Gedanken an einen kleinen, von ihr abhängigen Menschen zu ertragen, während sie jetzt den Gedanken nicht ertragen kann, dass es auf der Erde keinen kleinen Menschen mehr geben sollte, der von ihr abhängt, und um zu ihm zu kommen, ist sie bereit, ihre Welt auf den Kopf zu stellen, und wer weiß, vielleicht irrt sie sich auch jetzt, läuft wie eine Blinde durch ihr Leben, genau wie damals, und vielleicht passt das, was damals gut für sie war, heute nicht mehr zu ihr, aber wenn die Zweifel in ihr wachsen, tritt sie grob nach ihnen, nicht jetzt, der Kampf ist im vollen Gang, während des Kampfs darf man nicht an seiner Notwendigkeit zweifeln, man muss den Augenblick der Wahrheit abwarten, wie Gideon. Sie weiß, dass er darauf wartet, erst vor ein paar Tagen hat er zu ihr gesagt, du wirst es nicht tun, ich kenne dich, im Moment der Wahrheit wirst du kalte Füße bekommen, wenn du vor dem Kind stehst und dich fragst, was du mit ihm zu tun hast
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