Fuer den Rest des Lebens
sie stellt sich vor, wie sie sie im Arm halten, wie sie sie mit ihrer Liebe einhüllen, mit vier Armen, die immer größer werden. Während bei ihr die Brüstchen wachsen, wächst ihm ein heller Flaum, während ihr Becken sich verbreitert, kommt er in den Stimmbruch, doch während sie sich langsam von ihr löst und erwachsen wird, bleibt er da, schließlich war er schon immer ein mitfühlendes Kind gewesen, und jetzt kommt er aus Nizans Zimmer und steht ihr mit nackter, glatter Brust gegenüber, gegen die Anweisung des Arztes springt sie auf, das Zimmer verschwimmt und wird dunkel vor ihren Augen, aber es ist nicht wie bei ihrer Mutter, die einige Stunden zuvor das Bewusstsein verloren hat, ihr Bewusstsein wird erstaunlich klar durch den Sturz, als sie ihre Tochter sieht, die erschrocken aufgewacht ist und es nicht einmal geschafft hat, ein Hemd überzuziehen. Sie sieht sie so deutlich, dass sie meint, ihre inneren Organe wahrzunehmen, die Faust des Herzens, die Zwillingslungen, den erdigen Klumpen der Leber, das Spitzengeflecht der Nieren, wie sie sie damals gesehen hat, als sie die Ultraschallwellen durch ihren Bauch drangen, aber wird den Blick zur Schwelle senken, auf den Schatten, der immer dunkler wird, Junge, hört sie sich selbst laut sagen, wo bist du die ganze Zeit gewesen?
Drittes Kapitel
Was bleibt am Ende des Lebens außer liebgewonnenen Illusionen, und wer wird es wagen, an deren reiner Wahrheit zu zweifeln. So viel geht im Lauf der Jahre verloren, ein Verlust folgt dem anderen, und alles auf ganz natürliche Art, man darf nichts festhalten, denn auch der, der Schätze ansammelt, wird ohne Besitz sterben, natürlich auch sie, Chemda Horowitz, die entweder zu früh oder zu spät geboren wurde, jedenfalls nicht zu der Zeit und an dem Ort, die zu ihr gepasst hätten. Es waren stattdessen eine Zeit und ein Ort, die von ihr verlangten, was sie nicht geben konnte, und das, was sie geben konnte, verächtlich zurückwiesen. Auf den Dächern sollte sie herumklettern, von Dach zu Dach springen, als lägen dazwischen keine gähnenden Abgründe, über schwankende Stege sollte sie rennen und Bahngleise entlanglaufen, und in pechschwarzen Nächten im kalten See fischen, doch sie sehnte sich danach, mit Worten zu verblüffen, sie wusste so viele Geschichten, die sie nie aufschrieb, sie wusste sie wunderbarerweise alle auswendig, aber wenn sie sie erzählen wollte, verspotteten die anderen Kinder sie wegen ihrer gewählten Sprache, wegen der Übertreibungen, das kann nicht sein, warfen ihr die wenigen vor, die bereit waren, zuzuhören, das gibt es nicht, ein See, der sprechen kann.
An den Winterabenden, wenn der Wind um das allein stehende Kinderhaus pfiff und alles mitriss, was ihm in den Weg kam, erzählte sie ihre Geschichten. Von dem vergoldeten Fischerboot, das in den Tiefen des Sees begraben war, in dem das untergegangene Mädchen schlief und dessen Weinen man manchmal nachts hörte, Mama, schrie es dann, Mama, komm, und von dem Mann, der die verbotene Liebe im Schilf suchte und seine Liebe den Zugvögeln zuflüsterte, bis er verrückt wurde und das Moor ihn verschlang, und sogar unter der Erde sprach er weiter und seine Kehle füllte sich mit Schlamm, bis er wieder und wieder starb, und von der Frau, die sich nach einem Kind sehnte und jeden Tag in den See stieg, damit er sie von ihrer Unfruchtbarkeit heilen möge, doch der See sagte, ich werde dein Sohn sein, ich werde dein Säugling sein, und er tränkte sie mit seinem Wasser, das ihre Gebärmutter füllte und ihren Bauch aufquellen ließ, bis sie ein Wasserkind gebar, eine kleine Welle, die zwischen ihren Wellengeschwistern verschwand.
Sogar ihr Vater, der so gerne las, verzog das Gesicht bei ihren Geschichten, das ist jetzt keine Zeit für Märchen, Chemdale, es ist eine Zeit für Taten, sagte er seufzend, die Juden haben zu viele Märchen auf die Welt gebracht, und nur ihre Mutter hörte ihr, wenn sie für kurze Zeit zu Besuch kam, mit geschlossenen Augen zu, als lausche sie einer wohlklingenden Musik, und ermunterte sie, schreib das auf, du kannst dich schließlich nicht an alles erinnern, aber sie erinnerte sich, sie räumte in ihrem Kopf viel Platz frei, um sich zu erinnern, sie ließ keinen Raum für etwas anderes, bis sie keine einfachen Wörter mehr übrig hatte. Wenn man ihr eine einfache Frage stellte, machte sie den Mund auf, um eine einfache Antwort zu geben, doch es brachen nur Geschichten hervor, wie Dampf aus einem Dampfkochtopf
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