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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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hätte dieses Elend fast nicht ertragen, biss auf die Zähne, zog mich aus dem Haufen heraus, drehte mich um und legte mich hin, von wo ich auf hoch in die Luft ragende Beine mit Fußfesseln sah, die meine Stirn einklemmten wie in eine Schlucht. Mir blieb nichts anderes übrig, als sämtliche Bücher an einen anderen Platz zu legen, aus dem Kleiderpaket ein hohes Kissen zu machen – und die Krise war gelöst.
    Das Neonlicht brummte von der Decke, die Nächte waren weiß; wenn man die Augen schloss, reduzierte sich die Welt auf eine große Fliege, die sich nicht verscheuchen ließ. Draußen kreischten die Zikaden, und je mehr sie kreischten, umso einsamer wurde es, Gras wuchs einem aus den Ohren, Wachposten kreuzten im einsamen Gehörsinn des duftenden Grases wie leere Gewänder, die im Wind segeln. Dünne und flache Tage, ich stellte mir vor, ich sinke, vom Land auf den Meeresboden, ich schlafe neben dem Bauch eines Fisches, ich will nicht mehr aufwachen, ich will nicht mehr Zeuge sein meines Lebens, meiner Haft.
    Rums! Ein Erdrutsch, die Erde tat sich auf, ich sprang auf, aber ich sah, dass sich nur der Tote Lan umgedreht hatte. Die Ringe der Fessel waren ein paarmal gegeneinandergeklirrt. Ich schlief mit Unterbrechungen, ich träumte, die Fabrik, in der ich in jungen Jahren gewesen war, stieg aus dem Strom der Erinnerungen auf, diese alte, zahnlose Werkstatt mit der Schmiedepresse, das Auf und Ab der Presslufthämmer, das springende Stampfen der Ramme, ich rollte mir Baumwollkügelchen und steckte sie in die Ohren – auf einmal waren die Presslufthämmer weit weg, die Werkstatt war groß und leer, eine Pistole ging um den Hinterkopf herum und stellte sich gegen die Luftröhre, die Kugel verließ lautlos den Lauf, ich berührte das Loch in meinem Hals und schrie lautlos um Gnade – in Wirklichkeit hatte mir ein Knöchel samt Fußfessel gegen den Unterkiefer gedrückt.
    Die Kralle eines Teufels packte meine triefend nasse Schulter, ich riss die Augen auf und sah einem Ungeheuer in die Augen, es schwebte über meiner Stirn, aber wie auch immer, ich konnte mich nicht rühren; vor dem hinteren Fenster mäanderten die Schreie der Wachhabenden wie Schlangen, das Ungeheuer zog mich mit beiden Klauen hoch und brüllte mir ins Ohr: »Schichtwechsel!«
    Mechanisch machte ich einen Schritt von dem Kang herunter, das Knäuel von Gefangenen war auf einmal weit weg, ich reiste im Traum auf dem Mond, ich war noch nie im Leben so müde gewesen. Ich stürzte mich kopfüber in das Becken mit kaltem Wasser, danach stand ich triefend nass an der Gittertür im Durchzug. Vor meinen Augen zog ein nüchterner Vers vorbei: »Schlaf zerstört die Menschheit.«
    Die zweite Hälfte der Nacht hatte ich das Gefühl, mit Gewalt aus dem Bett gezerrt zu werden! Ich wanderte draußen vor den Gittern im Mondlicht, und je mehr man ging, umso flacher wurde man. Ich fixierte mich darauf, wenn ich durch die Gitter hindurch war, mich in einen Fleck zu verwandeln, der aus dem Gefängnis entkommt. Ich war bereits vom Mond auf den Mars geflohen.
    Ich pinkelte im Stehen und tappte in Richtung Schlaf. Meine Unterschenkel versanken in einem Sumpf, ich kam nicht von der Stelle, griff nach dem Gitter, zog wütend daran, in den Knien ein fürchterlicher Schmerz.
    »Bewegen nicht erlaubt!«, ermutigte mich ein Wachhabender durch das Kontrollloch warmherzig: »Bleib so stehen, in genau dieser Haltung, sagen wir: eine Stunde!«
    Er drehte sich höflich um und ging, ich musste mich mit den Armen am Gitter abstützen und mit meiner Kapitulation fortfahren. Ich stieß mit den Knien irgendwo an, was mich wach machte, für einen Augenblick, vom anderen Ende der Welt kam undeutlich ein Krähen herüber.
     
    Der für unsere Zelle Zuständige hieß Regierung Ju, er hatte entwickelte Muskeln, sich aber ein dünnes, spitzes Kinderstimmchen bewahrt. Am nächsten Morgen in aller Frühe führte er mich routinemäßig zum Begrüßungsverhör und schrieb die Sachlage meines Falls in groben Zügen in eine Kladde.
    In diesem Augenblick ging im Osten die Morgensonne auf, ein kühler Wind zog durch den Raum. Ich schielte aus dem Fenster, die Bergstadt lag unter einem gewaltigen Gazeschleier mit Edelsteinpailletten. Schimmernde Taubenschwärme waren ein feiner buntgescheckter Flugstaub auf der Eierschale der Sonne, ich öffnete den Mund und verschlang dieses Bild der Freiheit, und nach dieser Belebung von Geist und Seele nutzte ich den Augenblick und beschwerte mich bei meinem

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