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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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essschalengroßen Öffnungen in die Augen, mit der Zeit kroch es weiter, über den Boden und die Mauer hoch. Außer bei Wareneingang und Warenausgang wurden die Gittertüren morgens, mittags und abends einmal geöffnet, aber gewitzte Gefangene konnten allein durch das Abzählen des Sonnengitters die genaue Uhrzeit auf die Minute berechnen.
    Die Grundfläche der Zellen war doppelt so groß wie der vordere Hof, die Gefangenen litten die meiste Zeit da drin. Im Mittelpunkt stand ein gut zwei Meter breiter und gut fünf Meter langer Betonkang, ein enormes Ding, das noch einen Meter für den Durchgang und die öffentliche Toilette in einer Mauernische übrig ließ. Dem großen Eisenfenster in der Wand stand mit großem Abstand ein quadratisches Oberlicht im ersten Stock gegenüber, vor dem Tag und Nacht Wache geschoben wurde; durch die Eisengitter standen sich am rechten unteren Eck des hinteren Fensters die mündungsähnliche Essensausgabe und das Guckloch im Zentrum der Zellentür von ferne gegenüber. Deshalb war die Beleuchtungs- und Belüftungssituation ausgezeichnet, und es gab draußen keinen nicht einsehbaren toten Winkel.
    »Das ist ein tschechisches Gefängnis«, protzte Wen Zhi, der Zellenboss.
    Ein tschechisches Gefängnis hatte ich noch nicht gesehen, aber ich hatte im Zoo die Käfige der wilden Tiere gesehen, zwei, drei Orang-Utans oder Tiger hatten für sich einen vom Aufbau her ganz ähnlichen Bereich für das Fressen und für die Zurschaustellung; wir waren siebzehn bekleidete Bestien und hockten in einem Raum extrem dicht aufeinander.
    Vor Jahren hatte ich das Buch »Reportage unter dem Strang geschrieben« des tschechischen Revolutionärs Julius Fučík [39] gelesen, der Satz, der mich am meisten beeindruckte, war folgender: »Vom Bett bis zum Fenster waren es sieben Schritte, vom Fenster zum Bett waren es immer noch sieben Schritte.« Jetzt, da ich selbst in dieser Situation war, begriff ich, wie wohlwollend die deutschen Teufel damals waren, wenn sie ausgerechnet einem zum Tode Verurteilten so viel Platz einräumten.
    Normalerweise bekam ein Neuer das Bett neben der Toilette, aber ich wurde abseits zwischen zwei Todeskandidaten gesteckt.
    »Wir nehmen Rücksicht auf deine Stellung als Intellektueller!«, erklärte Wen Zhi. Ich verneigte und bedankte mich, was sollte ich machen.
    Nach dem Abendessen wurde die Anwesenheit kontrolliert. Wen Zhi thronte mit untergeschlagenen Beinen auf seinem aus Bettrollen aufgeschichteten Sofa und befragte den Neuen nach seinem Vergehen und verteilte die täglichen Pflichten: »Zuständig für die Bodenhygiene: Morgens, mittags und abends wird mit dem großen Putzlappen der Gang in der Zelle und der Innenhof draußen gewischt, und es wird erst aufgehört, wenn man sich auf dem Boden spiegeln kann. Um zu verhindern, dass die lebenden Toten Dummheiten machen, hat die Regierung bestimmt, dass alle Gefangenen turnusmäßig bei den Todeskandidaten Wache schieben müssen. Die Nachtschichten gehen von neun bis elf, elf bis eins, eins bis drei, drei bis fünf und fünf bis sieben, dazu kommt die Wache vom Mittagsschlaf. Du bist neu hier, du musst einen Monat lang die Wache von drei bis fünf und die Wache vom Mittagsschlaf übernehmen, dann kommst du in den turnusmäßigen Wechsel.«
    »Ist das auch eine Regel?«, sagte ich argwöhnisch.
    »Halt dein Maul!«, sagte Wen Zhi und starrte mich aus großen Augen an. Dann befahl er: »Bettenbau und fernsehen!«
    Der alte, 14-Zoll-Schwarzweiß-Fernseher war zwei Mann hoch angebracht, das Bild war unklar und trübe, aber der Ton war erstaunlich laut. Die Gefangenen schauten mit großem Vergnügen zu, bis um zehn Uhr die Glocke schrillte und sie sich schlafen legten.
    Der ganze Kang war ein einziges Knäuel aus heißem Fleisch, von dem ein dünner Rauch aufstieg. Ich saß ein wenig starr da und hatte mich gerade in einen einen halbe Elle breiten Spalt geschoben, als ein Unterführer, der Tote Lan, aufschrie: »Allerhand!«, und die Schulter schief hielt, das Handgelenk in der Handschelle drehte und mit ihr ein Loch in die Wand schlug. Danach seufzte und stöhnte er eine Weile.
    Ich machte, dass ich mit schiefgehaltenem Gesicht davonkam, wobei ich unversehens einem Oberen, dem Toten Liu, einen Kuss aufdrückte. Dieses mit tausend Dioptrien kurzsichtige basedowsche Monstrum war hocherfreut, schnalzte fortgesetzt mit der Zunge: »Lecker!«; sein Atem stank wie eine Kloake, seine Nasenlöcher gingen auf und zu wie ein Ameisennest.
    Ich

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