Für ein Lied und hundert Lieder
Meldung, ein Wachposten nahm uns auf. Hinter dem Tor war eine ausgedehnte Parkfläche, rechts und links davon gingen Steintreppen und kleine Wege ab, die sich um Blumenbeete ins Innere erstreckten. Ich bekam den Befehl, kurz stehen zu bleiben und Liu Taiheng als Ersten die Treppe hinaufzulassen, ungefähr zehn Minuten später ging ich den gleichen Weg, das Ganze wiederholte sich.
Die Treppe bestand aus drei Abschnitten, der erste Abschnitt wand sich zwischen Blumenbeeten, Rasen und Bäumen hindurch, wie bei den typischen Sanatorien in den Bergen, wo auch neben den Wegen Steintische und Steinbänke stehen. Aber je höher man kam, umso ungehinderter wehte einem der Wind ins Gesicht. Der scharf überwachte Sicherheitsbereich, wie das hieß, verschanzte sich am oberen Ende einer steilen Steintreppe.
Wenn man zum ersten Mal da hinaufsah, wirkte das wie ein Opferaltar oder ein Tempel in Miniatur. Als ich darauf wartete, meine Hüfte zu straffen, Haltung anzunehmen und Meldung zu machen, konnte ich mir einen heimlichen Blick zurück in den heranbrandenden Abend nicht verkneifen: Die Bergstadt lag unter mir wie ein gewaltiger, brodelnder Eintopfkessel, das berühmteste Gebäude der Stadt, ein großer runder Teller, schickte vom Boden des Kessels blubbernde Blasen hinauf. »Das Hauptquartier der fliegenden Untertassen«, dachte ich, »ob sie mich kidnappen werden?«
Danach kam die Leibesvisitation, in pfeifendem Durchzug. Ein paar Wachhabende suchten Kühlung auf den Bänken rechts und links vor der Tür, in der großen Halle stand ein Pulk Leute um zwei Schachspieler herum. Ich wurde von einem Rotfell, der Umerziehung durch Arbeit hatte, Zentimeter für Zentimeter abgetastet, das Wattefutter in meinem Bündel wurde auseinandergeschüttelt und in den Mülleimer gekehrt. Als die Quälerei vorüber war, befahl mir Regierung, einen viermal gefalteten Zettel zu unterschreiben. Ich unterschrieb. Erst am darauffolgenden Tag erfuhr ich aus dem Mund des für die Zellen zuständigen Regierung Ju, dass das mein Haftbefehl war.
Es ging schon in den Frühsommer, ich trug immer noch Wintermantel und Pullover, rechts auf die Brust und auf den rechten Arm hatte mir A Xia eigenhändig mit schwarzem Wollfaden eine Sonne und einen Mond gestickt, ich sehe aus wie ein bärtiger träger Opa. Erst zwei Jahre später las ich von meinem eigenen Körper die Bedeutung »stockdunkel« ab, woraufhin ich den Pulli sofort aufgab und ihn einem Leidensgenossen vermachte, der eine langjährige Strafe abzusitzen hatte.
Nachdem mir nachlässig der Kopf geschoren worden war, wurde ich durch die Eisentür zum Hinterhof gestoßen, dem Herzstück des gesamten Gerichtsgefängnisses: Hier warteten die Schwerverbrecher auf ihr Urteil, die Mauern waren an die neun Meter hoch, in den vier Ecken ragten Wachtürme, und die Zellen innerhalb der Mauern sahen aus wie gewaltige zweistöckige Bauklötze. Gerade und stocksteif, alle viere von sich gestreckt, lagen sie da. Die Wächter nannten das graue Gebäude spaßeshalber »Speicher der lebenden Toten« oder auch einfach »Zombiedepot«, das Kommen und Gehen der Menschen bezeichneten sie als »Warenausgang« und »Wareneingang«.
»Warenannahme, Zelle zehn!« Ein langgezogenes Wolfsgeheul folgte, die Zellentür, dicker als ein Backstein, schlug mit einem Bums auf, vor meinen Augen erschienen weißglänzende Kahlköpfe, zwei von ihnen nackt bis auf die Haut. Aber alle trugen Fuß- und Handschellen. Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich Menschen aus der Nähe sah, die zum Tode verurteilt waren.
Ich ließ mir nichts anmerken, es war wie eine Bestätigung meiner Kindheitserinnerungen. Mitte der 60er Jahre war in unserer kleinen Kreisstadt die Hinrichtung von Verbrechern ein großes Ereignis im Leben von Volk und Gesellschaft. Wenn die Ankündigung heraus war, strömten die Massen zum Gerichtsplatz, wo die öffentliche Verhandlung stattfand; die Hände auf den Rücken gefesselt und mit einer Schlinge um den Hals standen die Todeskandidaten nach vorn geneigt mit einem schwarzen Schild um den Hals und einer Straftafel im Kragen vor der Bühne des Vorsitzenden. Der Richter auf der Bühne führte die Verhandlung und verkündete das Urteil über große Lautsprecher, es war, als ob schwere Donner über ein endloses Meer von Menschen rollten.
Bei so einer Gelegenheit stahl ich mich unter ein paar kleine Hosenscheißer, studierte Schlammschmerlen, wobei ich Risiko lief, totgetreten zu werden, glitt unter nicht enden
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