Für ein Lied und hundert Lieder
Seltenheit, dass ich mit einem Bein an die Wand gestützt – schlief. Mein bester Trick war bei der Wache; ich steckte die Hand durch das Gitter, schüttelte es und wanderte ins Reich der Träume. Wenn man mich unvoreingenommen ansah, schien es, als wäre ich in das Lernen von englischen Vokabeln vertieft.
Die Freundschaft zwischen mir und meinen beiden zum Tode verurteilten Bettnachbarn ist in diesen Nächten entstanden. Ich schlief und war nicht wach zu kriegen, die beiden fanden keinen Schlaf und haben oft an meiner Stelle Wache geschoben. Draußen gab es kaum einen Laut, da rasselte eine Fessel gegen meinen Oberschenkel. Instinktiv sprang ich hoch, spürte auf einmal einen ungewöhnlich heftigen Schmerz und war für eine Weile halbseitig gelähmt.
Als Gegenleistung schrieb ich ihnen ihre Briefe nach Hause, ihre Klageschriften und ihre Testamente. Der Tote Liu, ein Schlachter, hieß mit Vornamen Shizhong, er war ein begeisterter Leser und schmökerte Tag und Nacht. Er hatte die Angewohnheit, mit dem Gesicht am Buch zu kleben, mit mehr als 1000 Dioptrien kurzsichtig, erschnüffelte er die Schriftzeichen regelrecht mit den Augen.
Es war heiß, also lag er in nassem Hemd und nasser Hose auf dem nassen Boden und las. Manchmal war er von den Geschichten in den Büchern so mitgerissen, dass er anfing zu lachen. Damals konnte es vorkommen, dass die Gefangenen im Wechsel nach vorne kamen und seinen großen, runden Bauch streichelten. Der gute Liu verbarg sich schüchtern, wie ein naives megalocephales Baby.
Der Tote Liu war von ausgeglichenem Gemüt, er hatte mehr als zehn Jahre Schweinefleisch verkauft, und nie war etwas vorgekommen, aber weil er an irgendeinem Tag mit jemandem gestritten hatte, hatte der ihm paar Ohrfeigen verpasst. Er war außer sich, griff nach dem Obstmesser und fuchtelte damit in der Gegend herum. Erst als er blinzelnd seine Brille vom Boden aufhob und aufsetzte, stellte er fest, dass der andere zuckend in einer Blutlache lag. Der gute Liu schaute dumm, erst als die Leute, die dabeigestanden hatten, ihn mahnten, packte er sich den Verletzten auf den Rücken und lief zum Krankenhaus. Aber nach noch nicht einmal der Hälfte der Strecke sank ihm dessen Kopf schlaff auf die Schulter, und die purpurfarbene Zunge hing ihm auf den Hals.
Als er in die Zelle kam, war es schon über 20 Tage her, dass man ihn zum Tode verurteilt hatte, sein Anwalt hatte vergeblich Berufung eingelegt. Der gute Liu hatte ein Leben lang alle Widrigkeiten über sich ergehen lassen, die einzige Macke, die er hatte: Er schlief sehr wenig und verbat es sich, von anderen zum Ausruhen ermahnt zu werden: »Die erste Hälfte meines Lebens habe ich mit Schweinen zu tun gehabt, und ich habe selbst auch geschlafen wie ein totes Schwein; jetzt bleibt mir nichts übrig, als mir die Augen aus dem Kopf zu studieren und aus einem Tag zwei Tage Leben zu machen.«
»In einem Staat in Südamerika gibt es ein Traumdorf«, gab ich an, »da sind die Menschen nachts aktiv. Sie bestellen die Felder, gehen auf den Markt, treiben Handel, die Lampen leuchten, bis der Tag anbricht, dann fangen sie an zu gähnen, und jeder geht nach Hause. Es gab Expeditionen, die am helllichten Tag in das Dorf eindrangen, sie fanden heraus, dass die Schatten hier verwirrt waren, die Menschen hielten sich sehr aufrecht nach vorne, und wenn sie sich zufällig an einer engen Straße begegneten, stießen sie fast zusammen, bevor sie einander auswichen. Und selbst die Hunde konnten dem Teufel begegnen, sie gaben ganz gegen ihre Art keinen Laut von sich.«
»Mein früheres Leben, das war so ein Traumdorf«, lachte der Tote Liu, »noch ein paar Tage und ich muss da wieder hin.«
»Von wegen Traumreisen, am Arsch«, sagte der Tote Lan böse. Die beiden lebenden Toten trugen immer Wortgefechte aus.
»Wenn der Mensch tot ist, ist er ein großer Haufen Scheiße.«
Der gute Liu sah ihn von der Seite an, ignorierte, was er gesagt hatte, und seufzte: »Jetzt habe ich sämtliche Bücher hier drin gelesen, allein deine ›Drei Reiche‹ habe ich dreimal verschlungen, heute Abend mache ich mich an das vierte Mal; als ich klein war, habe ich den Liu, Guang und Zhang in dem Buch sehr gemocht.«
In jener Nacht kam Wind auf, in der Zelle fiel auf einmal die Temperatur, nacheinander suchten sich alle eine Decke. Ich hatte keine Decke, die ich mir hätte überziehen können, also habe ich mich wohl oder übel möglichst eng in mein einziges Bettlaken gewickelt. Liu bestand darauf,
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