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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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dass ich mit ihm seine Decke teilte, er sprach nicht lange mit mir und zog einfach mein Bein unter seine Decke. Auf diese Weise haben wir einander lange gegenseitig die Beine umklammert, ich hatte das Gefühl, dass das hartnäckige Eisen nach und nach wärmer wurde. An diesem Abend habe ich ausgesprochen gut geschlafen, obwohl mir ein Kerl seine stinkenden Füße ins Gesicht drückte.
    Als ich mit der Wache an der Reihe war, las der Tote Liu immer noch »Die Drei Reiche«. Ich weiß nicht, in welches Kapitel er sich gerade vertiefte, aber in seinen Augen war ein ungewöhnliches Strahlen. Auf einmal warf er das Buch zur Seite, stand auf, knallte seine Fesseln gegen die Wand, schaute zum Himmel und sagte mit einem langen Seufzer: »Liu Shizhong, ach, Shizhong heißt ›generationentreu‹, schade, dass deine Generation so treu und ergeben ist, und nun so ein Ende, das ist bitter!«
    Und dann stimmte er ein Lied an, in hoher Tonlage, ein Lied aus der Sichuan-Oper, es war zum Steineerweichen, und er zog die stille und verlassene Gefängniszelle in einen Wirbel.
    »Hast du sie noch alle?«
    Wie auf Verabredung kamen die anderen Gefangenen hoch und beschwerten sich, der Wachhabende kam gerannt, rief den alten Liu heraus und brannte ihm den Elektroknüppel über. Doch kaum hatte der seine Strafe kassiert und war zurück in der Zelle, da sagte dieser dreiste Kerl mit lachendem Gesicht: »Konterrevolution, das Traumdorf, von dem du gesprochen hast, das Traumdorf gibt es. Draußen mischen sich Regen und Wind, über die Mauer kommen die Geister der Gehenkten.«
    Der Tote Liu wurde in die Zelle 5 verlegt und machte sich dann auf den Weg. Wie die Gefangenen aus seiner Zelle später erzählten, war es früh am Morgen, der gute Liu war wie immer, er saß, wie es seine Gewohnheit war, mit untergeschlagenen Beinen auf einer Ecke des Kang und wartete, dass sein Speisepartner das Frühstück bringen würde. Da sie sich aufeinander abstimmen mussten, die Kerle schlossen sich freiwillig zu kleinen Speisegruppen zu zweien oder zu dreien zusammen – und der Platz, am dem sich der alte Liu das Essen servieren ließ, war der Toilette am nächsten.
    Als er mit dem Essen begann, hob der Tote Liu die Schale mit beiden Händen hoch, sein Partner war unten, er oben. Sonnenlicht bestrich die Zelle mit Salven, den feuchten Wänden entstieg kalter Nebel, die Grillen zirpten, die Spatzen saßen auf den Elektronetzen und putzten sich sorglos das Gefieder – das war wohl einer der herzerfrischendsten Sommertage in der Bergstadt. Die Zellentür ging unbemerkt auf, ein Polizeibeamter kam herein, die Hände auf dem Rücken, baute sich vor dem Eisengitter auf und war für eine Weile tief in Gedanken, es schien fast, als bringe er es nicht über sich, die armen Gefangenen beim Essen zu stören.
    »Liu Shizong!«, rief er schließlich mit seiner extrem weibisch-traurigen Stimme. Den Tonfall kannten wir nur zu gut, in der Kindheit hatten unsere Mütter uns mit diesem Tonfall nach Hause gerufen. Und Liu, der in diesem Augenblick wieder ein Kind wurde, hatte erst einen Mund voll von dem Reisbrei herunter und schob gerade ein Mantou nach. Instinktiv zog er die Beine zurück und stieß dabei die Reisschale um. Sein Partner stand auf und zog sich schweigend zur Seite zurück. Die anderen Gefangenen hielten vorsichtig ihre Schalen in Händen und nahmen die Haltung von Unbeteiligten ein, einige steckten Schnauze und Gesicht in ihren Reisbrei. Der kleine Liu zog sich weiter zurück, er sah aus wie ein ungehorsamer kleiner Junge, der noch nicht nach Hause will.
    Der Polizeibeamte tat einen Schritt in den Raum hinein, schüttelte ratlos den Kopf und schnippte hinter seinem Rücken mit dem Finger. Zwei Rotfelle, die Umerziehung durch Arbeit hatten, folgten ihm in ihren blauen Kitteln und blauen Hosen auf dem Fuß. Er breitete freundlich die Arme aus und sagte: »Liu, komm, sei brav!«
    Während er das sagte, stellte er einen Fuß auf den Kang, schwebte hoch in der Luft und lud das feige, fette Kind auf die aus vier Armen gebildete menschliche Sänfte.
    Der Körper des kleinen Liu lag auf dieser Sänfte hingebreitet, den Kopf nach oben, die Augen in sich versunken, es sah aus, als werde ein dünner Schlamm weggetragen. Unter den Schatten würde er keinen Hunger mehr leiden, denn sein Mund hat dieses halbe Mantou bis in den Tod nicht mehr losgelassen.
     
    Ein paar Tage bevor sich mein anderer Nachbar, der Tote Lan, auf den Weg machte, schwoll seine Brust plötzlich

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