Für ein Lied und hundert Lieder
und schöpfte scheppernd mit einem Napf Wasser. Wen Zhi schlug ihn auf der Stelle nieder. Triefend und dumpf vor sich hin starrend stand er unter den bunten Sprenkeln der Sonne, die Adern traten blau hervor, seine bebenden Brüste waren kurz davor aufzubrechen, als die Zellentür leise aufging.
Mit einem frischen Windhauch wehte der Ruf dieser weichen weibischen Stimme, die alle so gut kannten, herein: »Lan, kommen Sie einmal heraus!«
Die Atmosphäre war mit einem Mal eisig, über dem Scheitel des Toten Lan öffnete sich eine aus zahllosen goldenen Kreuzen gebildete Passage, in der sich seine Seele auflösen und davonflattern würde.
Ich hob ein Hemd auf und legte es ihm um die Schultern, doch als er sich umdrehte, fiel es wieder zu Boden. Die Zellenverwaltung und die Rotfelle traten hervor, und die Kerle wurden in die Zelle getrieben. Und der alte Lan, der Räuber, machte sich ohne einen Faden am Leib auf den Weg. Er hatte eigentlich vorgehabt, sich für den Weg von drinnen nach draußen zu waschen und sich sauber in ein Gespenst zu verwandeln, aber er kam leider zu spät.
Sechs Jahre später habe ich zu Hause in Baiguolin wieder von ihm geträumt, er drehte mühelos eine Steinmühle, zum mahlenden Summen der Mühle sang er ein Lied, er war weder Frau noch Mann, ganz unwillkürlich sang ich mit, es war ein Schlager, der vor einigen Jahren sehr populär gewesen war. Später wollten sie mich auch zur Erschießung hinauszerren, doch ich hatte einen Arm im Auge des Mühlsteins eingeklemmt.
Als ich erschrocken aus dem Traum hochfuhr, war schon helllichter Tag, und ich rechtfertigte mich vor mir selbst: »Wer im Traum stirbt, bleibt am Leben, heute bekomme ich bestimmt Besuch von einem fernen Freund.«
Tatsächlich kam mein Freund Wei Haitian aus Beijing vorbei, er war ein Kommilitone von Zou Jin und hatte früher am Shekou in Shenzhen in einem Investmentbüro gearbeitet, er war einer von den geheimen Kanälen zur Überschreitung der Landesgrenzen, die Wu Bin damals für mich geplant hat.
Es ist jetzt ein paar Jahre her, dass ich kein Gedicht mehr geschrieben habe, und doch werde ich immer noch als »Dichter« angesprochen. Ich fühle so etwas wie Scham, ein seltsames Gefühl, das sich seit dem Knast gehalten hat. Ich habe Xiaodu ein paar Gedichte gezeigt, die ich im Gefängnis geschrieben habe, er hat sie kritisiert als »Produkte einer speziellen historischen Umgebung«, was so viel hieß wie: »Alles längst überholt.«
Auch meine Träume sind überholt. Oder, um es mit einem Aufsatz von Xiaodu mit dem Titel »Schreiben im Kontext der Postmoderne« zu sagen: »Nach ’89 habe ich ein Telegramm bekommen, das von zwei Freunden im Ausland unterschrieben war. Das Telegramm endete mit den Worten: ›Jetzt noch über Lyrik zu sprechen ist Luxus!‹«
Der Satz rief mir einen anderen Satz ins Gedächtnis, wohl einer der einflussreichsten Sätze des 20. Jahrhunderts: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.« Aber dieser Satz hat das Auftauchen von Tausenden von Dichtern nicht verhindert, denn die Menschen können nicht ständig unter dem düsteren Schatten ihrer großen Massaker leben, sie müssen die Geschichte dekonstruieren und die Qual und das Leid zu einem Konsumartikel machen.
Ich war erst eine Woche im Gerichtsgefängnis, als mir wegen eines Verstoßes, ich hatte mich mit jemandem geprügelt, die Hände auf den Rücken gefesselt wurden. Der Gefängnisarzt hatte etwas für Intellektuelle übrig, er verpasste mir ein paar Hufeisenhandschellen in größerer Größe, während mein Gegner sie in kleinerer Größe hatte. Eine halbe Stunde später waren meine Arme nur ein bisschen geschwollen, während die Handrücken des anderen angeschwollen waren wie Mantous. Der Rost von den Handschellen drang ins Fleisch, und noch am selben Abend wurde alles dick.
Als die Klingel für die Pause schrillte, faltete der Tote Liu seine Decke zusammen, legte sie an die Wand des Kang und bot mir an, mich dagegenzulehnen, um den Druck von den hinter den Rücken gefesselten Armen zu nehmen. Die Müdigkeit kam mit großer Macht über mich, aber trotzdem wälzte ich mich herum und fand kaum Schlaf! Ich hielt es nicht aus und nagte an meinem rechten Arm, der Schmerz war so jäh und heftig, es war, als würde mir der Arm gebrochen, es konnte einen in den Wahnsinn treiben! So quälte ich mich bis tief in die Nacht, wo ich für meine Wache aufstehen musste. Ich hatte mir gerade das Handgelenk aus der Handschelle
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