Für ein Lied und hundert Lieder
dem Kang saß: Er hatte einen großen Kopf und tote Fischaugen, die Einkerbung seiner Stirn war entsetzlich. Er lachte einmal in meine Richtung, und es war, als hätte mir jemand sämtliche Eingeweide durchleuchtet.
»Hast du Bücher?«, fragte er.
Ich reichte ihm sämtliche Bücher, er zog einen Atlas der Gegend heraus und versenkte sich darin. Neben ihm gab es noch zwei weitere Obere, zwei fette alte Säcke, einer hieß Sun, der andere Chen. Ich eilte zu ihnen und fragte ehrerbietig nach dem Befinden.
Anscheinend hatte ich es hier mit einem relativ freien Kollektiv zu tun, die Alten waren alt, die Kleinen klein, aber jeder hatte das Recht, seine Meinung zu äußern. Ein sauberer Dienstplan hing unter den »Gefängnisregeln« mitten an der Wand, der Vorsitzende Chen hatte sich, als er am hinteren Fenster vorbeikam, von einem Rotfell einen Stift geben lassen und trug meinen Namen in den Dienstplan ein.
»Wir sind hier in der Reform-Versuchs-Zelle von Regierung Tong«, sagte er absichtlich laut, »alte und neue Gefangene, alle sind gleichberechtigt.«
Zur Essensausgabe am Mittag beschaffte der Vorsitzende Chen Stäbchen und Schälchen, zwei Konterrevolutionäre halfen ihm dabei – und auch wenn es Kürbissuppe gab, alle aßen in bester Laune. Zur Mittagsruhe legte ich mein Kopfkissen, wie es die Vorschriften verlangten, in die Nähe der Toilette, aber der alte Chen brüllte, ich sollte von seinem Spezialbett die Finger lassen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.
»Ich hätte nicht gedacht, dass hier noch einmal ein Lei Feng auftaucht«, lachte der Wachhabende Kleiner Schwarzer Teufel.
»Lei Feng ist ein Furz«, sagte der Vorsitzende Chen ohne Überzeugung, »ich bin sein Meister, wenn ich einen Tag keine gute Tat vollbringe, fängt mir die Haut an zu jucken.«
Ich blätterte meine Post durch und hatte zur Mittagszeit noch nicht alles gelesen und las am Nachmittag weiter. Die Gefangenen um mich herum waren voller Neid. Die meisten Briefe kamen von A Xia, sie hatte es sich angewöhnt, jede Woche einen Brief zu schreiben, sie war von ihrer Mutterschaft ganz erfüllt, und über die geringste Bewegung von dem kleinen Wesen in ihrem Bauch musste sie ihre übertriebenen Gefühle ausführlich schildern.
Seit ich von zu Hause weg war, war das Kind ihr Begleiter und ihr Zeitvertreib. Ich war noch nie ein Ehemann, der wusste, wo er hingehört, deshalb sagte sie, um sich selbst Trost zuzusprechen: »Liao, das Bartgesicht, ist wieder einmal auf Geschäftsreise. Das letzte Mal waren es zwei, drei Monate, dieses Mal dauert es ein halbes Jahr oder etwas länger.«
Als Zhongzhong draußen war, hat er uns an der hohen Mauer viele Male »besucht«, Geld und Sachen geschickt und für Li Yawei einen Anwalt engagiert. Das Hinkebein hat für mich einmal wahrgesagt: Ich müsse reisen. Das hieß, ich müsste mich ein paar Jahre in der Weltgeschichte herumtreiben.
Im Xuguachuan, einem der zehn »Flügel« des Buches der Wandlungen, heißt es: »Wer sehr arm ist, muss sein Haus verlieren, deshalb ist er auf Reisen.« Das traf fast wörtlich meinen damaligen Seelenzustand und mein späteres Schicksal. Vielleicht ist das »Buch der Wandlungen« kein Werk aus dieser Welt.
Ich bekam ganz unerwartet eine »Global Screen«, die sofort zu einer heißbegehrten Ware wurde. A Xias Busenfreundin Lai Min ermunterte mich in ihrem Begleitbrief, nach Herzenlust die darin abgebildeten Schönheiten aus China und dem Ausland zu genießen, der Ton, in dem sie schrieb, war warm, man fing richtig an zu träumen – was dazu führte, dass die anderen Gefangenen sich darum schlugen, mich zu fragen, wie viele Geliebte ich eigentlich draußen hätte.
Lai Min war von Natur unbändig und nicht auf den Mund gefallen, die meisten Männer konnten sich nicht mit ihr messen. Leider hat sie ein Jahr nach meiner Entlassung das Zeitliche gesegnet. Nach Zhongzhongs Darstellung hatten sich die Krebszellen recht gut in ihrem Körper versteckt; als sie entdeckt wurden, war sie schon im Endstadium. Sie versuchte alles und lebte noch vier Jahre, sie war seelisch nicht aus der Fassung zu bringen, doch ihr Körper verfiel rasant. Sie schminkte sich perfekt, um mit ihrer bis zum Ende blendenden Erscheinung gegen die Todesgeister zu demonstrieren. Ich kann mir nicht im Geringsten vorstellen, was für ein Anblick es gewesen sein muss, wenn aus dem lebenden Skelett, das sie am Ende war, ihr heiteres und klares Lachen kam!
Ich las meine Briefe, und alle möglichen
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