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Für ein Lied und hundert Lieder

Für ein Lied und hundert Lieder

Titel: Für ein Lied und hundert Lieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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bekannt als ein Glutofen, das Gefängnis war das Backrohr dieses Ofens. Die Deckenventilatoren eierten wie verrückt und quirlten den Glutwind aus der Wüste auf. Wenn man Wasser an die Wände spritzte, zischte weißer Dampf auf, der auf der Stelle wegtrocknete.
    Über die Hälfte der Verbrecher in der Zelle bekamen einen Hitzschlag, sie wurden zu zweien und zu dreien rausgetragen, man übergoss sie mit Wasser, bis sie puterrot waren, dann warf man sie auf den nassen Boden und wartete, bis sie von selbst wieder zu sich kamen. Und diejenigen, die keinen Hitzschlag hatten, kamen nachts auch nicht zum Schlafen, ihnen glühten die fünf Sinne wie läufigen Hasen.
    Die eisernen Knochen und Muskeln meines Körpers rosteten vor sich hin, die Stimmung wurde mit jedem Tag explosiver, ich verstieß immer wieder gegen irgendwelche Vorschriften und wurde bestraft, dank unseres Regierung Tong, eines wahren Raubtierbändigers, der sich bis in das kleinste Detail um seinen Tiger kümmerte, mich. Pünktlich gab er mir die Briefe von zu Hause, pünktlich meldete er meine schlechte Führung den Familienangehörigen, die mich im Gefängnis besuchten – woraufhin A Xia viele Briefe voller Liebe und Zärtlichkeit schrieb, unentwegt von dem Kind in ihrem Bauch sprach, um mir damit irgendwelche Vatergefühle abzuringen. Mein Zuhause war draußen, außerhalb der Mauern, doch wenn ich früher zu Hause gewesen war, dann als Gast.
    Es war ein einziges Elend, die lebenden Toten schliefen wie die Schweine in einer richtigen Drecksuhle. Wen Zhi, unser Zellenchef, zog sich hoch, rollte sich über den Mittelgang und befahl dann irgendwem, einem Gefangenen, einem Bauern, die Unterhose runterzuziehen. Der hielt sie fest, die Fäden rissen und hielten dessen mit über einer Elle Länge Übergröße-Schwanz. Mit großem Getöse und Pauken und Trompeten kamen alle mit gedämpften Stimmen heran. Es war ein Festtag in der Zelle, selbst die Todeskandidaten hockten am Ende des Kang und klatschten Beifall – der Gepiesackte nahm mit großer Begeisterung die Ovationen entgegen und machte unbefangen für sich selbst Reklame: »Das muss man gesehen haben, das ist der größte Schwanz der Welt, ein Knüppel gefährlicher als von einem Neger in Afrika!«
     
    Unser Regierung Tong hatte ein Faible für Diskussionen über die Lage im Land, da machte die Zeit, in der ich als Strafe die Hände auf den Rücken gefesselt hatte, keine Ausnahme: »Das Urteil über den 4. Juni 89 wird man sicher revidieren müssen, aber nach der Revision, was sollen wir dann machen?«, fragte er besorgt.
    »Von der Sowjetunion lernen!«, antwortete ich, wobei ich meine geschwollenen Arme nach oben und unten streckte.
    »China hat keinen Gorbatschow, Zhao Ziyang wollte es werden, aber ihm fehlte das Charisma«, widersprach er vorsichtig und gewunden.
    »Der Vorsitzende Mao hat früh schon gesagt: ›Außerhalb der Partei gibt es Parteien, innerhalb der Partei gibt es Fraktionen.‹ Die russischen Kommunisten sind heute längst in drei Fraktionen aufgespalten: das Zentrum, die Demokraten und die Konservativen, und der alte Gorbi ist mittendrin und vermittelt.«
    »Damit ist auf lange Sicht die Balance nicht zu halten.« Regierung Tong erhob sich, machte ein paar Schritte und diskutierte dabei weiter die großen Fragen der Weltpolitik.
    Ich stand daneben, der Schweiß rann mir in Strömen über den Rücken, das Jucken war unsäglich, ganz aus dem Nichts tropfte meine Nase, Tränen liefen mir aus den Augen, als hätte ich wer weiß was für einen Spaß, und schadete damit dem Ansehen der politischen Gefangenen.
    Ich konnte mir nur über das Gesicht wischen, indem ich ein Knie anhob. Als Tong das sah, hielt er den Mund und wischte mir mit seinem schneeweißen Taschentuch über mein entzücktes Gesicht. Ich nutzte die Gelegenheit und bat inständig, mir die Fesseln abzunehmen, Tong sagte nichts, er schickte mich nur tief in Gedanken in die Zelle zurück.
    Am Abend des gleichen Tages brachten die Fernsehnachrichten als Top-Meldung den Zwischenfall vom 19. August in der Sowjetunion. Es ging anscheinend darum, der Gründung eines Notstandskomitees unter dem Vorsitz des Präsidentenvertreters Janejew in die Hände zu arbeiten, das Ganze führte plötzlich zu einer sehr angespannten Atmosphäre im Gefängnis, im ersten Stock wurden die Wachen verdoppelt und das Pausenklingeln vorgezogen; am nächsten Tag wurde der Hofgang abgesagt. Unerwarteterweise gewann die Umsturzintrige nicht die Herzen

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